Für die nächsten Tage wurde Valeria in der Schule krank geschrieben. Tatsächlich hatte sie sich eine starke Erkältung eingefangen, als sie vor einigen Tagen im Dunkeln durch die Stadt geirrt war. Ausserdem waren ihre Eltern der Meinung, dass die Familie unter sich trauern sollte und nun ein wenig Ruhe gebrauchen konnte. Doch so langsam war es Valeria zuwider, die langen Gesichter ihrer Eltern zu sehen, die verborgene Trauer, die sich in den roten Augen ihrer Mutter zeichnete, wenn sie den morgendlichen Kaffee zubereitete. Auch ihr jüngerer Bruder schien es satt zu haben, traurig zu sein. Täglich erschien er beim Frühstück mit schlechter Laune und bis aufs äusserste gereizt, sodass sie aufpassen mussten, dass er nicht bei der kleinsten Berührung explodierte vor aufgestauter Energie.
So kam es, dass Valeria unabsichtlich mitbekam, wie ihre Eltern über die Leiche ihrer Grossmutter sprachen.
«Sie wird...», sagte ihre Mutter mit gedämpfter Stimme und fuhr nahezu angeekelt fort, «...konserviert. Papa wollte es so.»
«Ja, damit wir sie noch ein letztes Mal sehen können», fügte ihr Vater hinzu, woraufhin ihre Mutter erzürnt schnaubte.
«Das ist doch kein Zoo, bei dem sie-«, ihre Mutter zögerte eine Weile, bevor sie leise weitersprach, «bei dem sie tote Menschen zur Schau stellen können.»
«Dein Vater hat es so entschieden, also wird es auch so gemacht.»
«Ich will und kann sie aber nicht so sehen», meinte ihre Mutter und wirkte plötzlich nocht mehr so, als ob sie über jemand Unbekannten sprach, denn ihre Stimme klang ein wenig weicher.
«Aber ich.»
Die Köpfe ihrer Elter schnellten herum und erst da bemerkte Valeria, dass die Worte aus ihrem Mund gekommen waren. Erschrocken blickte sie zwischen den Gesichtern ihrer Eltern hin und her, die sie wütend und überrascht zugleich betrachteten. Sie wollte etwas sagen, das das Gesagte irgendwie rechtfertigte, da es offenbar äusserst absurd war, eine Leiche zu besuchen. Aber nichts fiel ihr ein. Kein einziges Wort kam ihr in den Sinn, das es wert war auszusprechen und merkwürdigerweise wollte sie es auch gar nicht. Tatsächlich schien sie es nicht zu bereuen, was sie gesagt hatte, was sie nur noch mehr dazu anstachelte, eine sture Miene zu bewahren.
«Auf keinen Fall», gab ihre Mutter deutlich zu verstehen und unterstrich ihre Worte mit einem bestimmten, kühlen Blick.
Enttäuscht musterte Valeria ihre Mutter, die jedoch nicht nachzugeben schien, also wandte sie sich mit einem fragenden Ausdruck an ihren Vater, der jedoch nur hilflos mit den Schultern zuckte.
«Bitte», bettelte Valeria nahezu, die sich noch unsicher war, woher dieser Drang plötzlich herkam.
«Nein», wiederholte ihre Mutter scharf und schien diesmal kein weiteres Wort zu erwarten, doch Valeria wollte ihrem ungestümen Drang noch nicht nachgeben.
«Ich will aber!» rief sie laut, wobei sie selbst über sich erschrak, was sie im nächsten Moment jedoch wieder vergass, denn ihre Mutter stand auf und antwortete nicht minder laut: «In dein Zimmer! Sofort! Du hast heute Abend nichts mehr zu suchen hier unten!»
Valeria stürmte ohne zu zögern die Treppe hinauf und warf sich in ihrem Zimmer sogleich auf ihr Bett, wo sie ihren Tränen endlich freien Lauf liess. Sie strömten in Wasserfällen vor Wut und Enttäuschung aber vor allem auch vor Trauer über ihr Gesicht, unterbrochen von unterdrückten Schluchzern.
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Verabschiedungen
Short StoryÄngste vor der Dunkelheit, den sogenannten bösen Menschen, oder sogar vor den Geistern, die wir aufgrund unseres Menschenseins nicht zu sehen vermögen? All dies sind Dinge, über die wir uns alle bereits Gedanken gemacht haben.