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An einem anderen Abend an dem Valeria ihre Grossmutter besucht hatte, die heute ein wenig müder als sonst gewirkt hatte, entschied sie, zu Fuss heimzugehen. Sie hatte den Bus verpasst und der nächste würde sich aufgrund von starkem Schneefall um eine halbe Stunde verspäten. Gerade etwa so lange dauerte ihr Heimweg zu Fuss. Ihre Mutter wollte zwar nicht, dass sie im Dunkeln alleine unterwegs war, doch sie hatte keine Angst, sie fand das Gehen auf dem Schnee, auf dem ihre Schritte leise knirschten, eher beruhigend. Dies bewahrheitete sich auch, zumindest solange sie sich auf den grossen Strassen befand, doch musste sie auf ihrem Heimweg auch ein verlassenes Viertel durchqueren. Es war zwar nicht sonderlich gross, doch anscheinend war seit Jahren niemand daran interessiert, dort zu wohnen. Sämtliche Lichter in den Häusern, welche alt und zerfallen wirkten, waren erloschen, nur selten traf man auf ein bewohntes Haus. Das Wort unheimlich passte wohl am besten, um den Zustand des Viertels zu beschreiben. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sie ein ungutes Gefühl beschlich. Unwissend, woher diese Angst herkam, versuchte sie, diese zu überspielen, selbst wenn sie hier wohl kaum beobachtet wurde. Doch genau dies mochte der Punkt gewesen sein. Plötzlich meinte sie die Anwesenheit eines anderen Wesens zu spüren und blieb stehen, um sich kurz umzusehen. Doch ausser dem dunklen Efeu, das sich an den grauen Hauswänden hochschlängelte und sich leicht im sanften Wind wiegte, bewegte sich nichts und sie kniff nur misstrauisch die Augen zusammen und ging mit einem mulmigen Gefühl weiter. Doch nach einigen Schritten blieb sie erneut stehen und horchte nach einem Geräusch, einem Knarren, von dem sie sich diesmal sicher war, dass sie es gehört hatte. Ihr Herz pochte heftig gegen ihren Brustkorb und ihre Hände zitterten leicht, was jedoch nichts mit der Kälte zu tun hatte. Dicke Schneeflocken wirbelten mittlerweilen vom Himmel und verdeckten ihre Sicht. Sie schluckte und presste die Lippen fest aufeinander, bevor sie sich entschied, dass es wohl besser war, so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen. Der Schnee knirschte leise unter ihren Füssen, doch diesmal verspürte sie nicht das gewohnte angenehme Gefühl, sondern empfand dieses als störend und unheimlich, da sie somit schlechter auf merkwürdige Geräusche hören konnte. Doch jedes Mal, wenn sie stehen blieb, war da bloss diese Stille, die so still war, dass sie in ihren Ohren schrie. Sie schlang also die Arme um ihren Körper und ging mit Riesenschritten weiter. Ihr Atem rasselte und jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schien angespannt, ebenso wie ihre Nerven. Immer wieder warf sie Blicke hinter sich, doch nie konnte sie eine Bedrohung erkennen. Das konstante Gefühl, verfolgt zu werden, blieb jedoch.
Noch nie glaubte sie sich so erleichtert gefühlt zu haben, als sie endlich die Lichter des nächsten Viertels erblickte und ohne weiter zu überlegen losrannte, wobei sie noch immer dieses Gefühl hatte, dass sich jemandes Augen in ihren Rücken zu bohren schienen. Doch sie warf keinen einzigen Blick mehr zurück und verlangsamte auch nicht, bis sie schliesslich ihr Haus erreichte und mit ihren Händen die Türklinke wie ein Schraubstock umschloss, während sie diese hinunterdrückte und die Türe nach innen aufklappte. Drinnen presste sie sich sofort mit dem Rücken gegen das harte Holz der Türe und schloss die Augen. Langsam liess sie ihren Puls runterfahren und atmete wieder regelmässiger. Doch auch hier schien etwas nicht zu stimmen. Nicht wie sonst war es seltsam ruhig. Irritiert hängte Valeria ihre Jacke an den Hacken, bevor sie im Wohnzimmer ihre Eltern aufsuchte. Noch wollte sie ihnen nichts von ihrem Erlebnis sagen, sonst würden sie es ihr vielleicht verbieten, ihre Grossmutter alleine zu besuchen. Doch beim Anblick ihrer Eltern blieb ihr jedes Wort im Halse stecken.
Die Hand ihres Vaters lag beruhigend auf der Schulter ihrer Mutter, welche sich erschöpft die Stirn massierte.
«Was-was ist denn los?», fragte Valeria stockend und schaute hilflos zwischen den beiden Menschen hin und her. Eine Weile herrschte Stille.
«Das Krankenhaus hat gerade angerufen», antwortete ihr Vater schliesslich zögernd, «deine Grossmutter ist vor fünf Minuten gestorben.»

VerabschiedungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt