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Sie schreckte aus dem Schlaf und sass sogleich aufrecht in ihrem Bett. Draussen heulte der Wind und liess die Läden an die Hauswand schlagen, dessen Geräusch sie wohl aufgeweckt hatte. Seufzend öffnete sie das Fenster, woraufhin sogleich kalte Luft in ihr Zimmer drang und sie frösteln liess. Ihre Haare wurden in ihr Gesicht gepeitscht und draussen schwankte eine Laterne so sehr, dass sie befürchtete, sie würde womöglich umfallen, so stark wütete der Wind. Sie hielt den Laden fest und wollte ihn gerade wieder an den rechten Ort befördern, als sie ein Knarren vernahm und ruckartig herumfuhr. Mit heftig klopfendem Herzen und grossen Augen suchte sie ihr Zimmer nach einer Regung ab, doch sie konnte nichts erkennen ausser den üblichen Schatten, die das schwache Licht zeichnete. Wieder versuchte sie den Laden zu bändigen, als ein blasses Stück Farbe auf der gegenüberliegenden Strassenseite, vor der Rottanne ihre Aufmerksamkeit erregte. Augenblicklich bewegte sie sich nicht mehr und starrte wie in Trance auf den farbigen Fleck mitten in der Dunkelheit.

Für einen kurzen Moment schien die Welt stillzustehen, sodass sogar der Wind aufhörte zu heulen. Womöglich war es ein Traum oder eine Einbildung und doch fühlte es sich so unglaublich real an. Direkt vor der Rottanne erblickte sie das wahrhaftige Abbild ihrer Grossmutter, die sie mit dem zärtlichen Ausdruck betrachtete, den sie so oft bei ihr gesehen hatte. Sie trug dieselbe Bluse, die sie meistens angehabt hatte. Ein hellblauer Untergrund, verziert mit unscharf gemalten, gelben Singvögeln. Ihre Haare wirkten frisch gewaschen, sodass das Weiss nur so strahlte. Ihre Falten sassen an denselben Stellen wie sonst auch, nur ihre Lippen wirkten nicht ganz so spröde wie sonst. Auch ihre Augen funkelten, wie es Valeria schon seit Langem nicht mehr bei ihr gesehen hatte.
Valerias Mundwinkel zuckten leicht nach oben, ohne dass sie es bemerkte, woraufhin ihre Grossmutter kaum merklich nickte. Sie schien ihr zuzustimmen und ihr etwas mitteilen zu wollen. Ohne dass sie den Arm auch nur rührte, spürte Valeria, dass sie ihr winkte. Augenblicklich verspürte sie den Drang, die Geste zu erwidern. Doch gerade als sie ihre eigene Hand gehoben hatte, ertönte im Inneren ihres Zimmers erneut ein Geräusch, das sie aufschrecken liess, doch als sie sich umsah, war da nichts. Als sie sich nun wieder ihrer Grossmutter zuwenden wollte, war diese verschwunden. Vor der Tanne war bloss noch Gras zu sehen, das im Dunkel der Nacht dunkelblau wirkte.

Auf einmal hörte sie den Wind wieder kreischen, selbst wenn das Unwetter nicht mal annähernd so einschüchternd wie davor wirkte und bemerkte, dass ihr ziemlich kalt war.
Trotzdem verharrte sie noch einige Momente in der Position und starrte reglos auf den leeren Punkt. Seltsamerweise fühlte sie sich, als ob soeben eine schwere Last von ihren Schultern genommen worden wäre und fühlte sich leicht, fast so, als würde sie schweben. Sie wusste nicht, ob sie sich nun erleichtert fühlen oder ob sie traurig sein sollte, doch etwas hatte sich definitiv verändert. Ihre Grossmutter war vielleicht von ihnen gegangen, zumindest ihr Körper, den sie danach auch nicht lange aus eigenen Erinnerungen vor Augen holen konnte. Ihr Aussehen wurde immer schummrige, ihre Gestalt immer schwerer vorzustellbar. Stattdessen waren es ihre Merkmale, ihr liebevolles Lächeln beispielsweise, das waren die Dinge, die für immer in Valerias Herzen blieben.

VerabschiedungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt