„Hey. Blair. Haben Sie vor den Dummy zu zerfetzen oder warum stechen Sie auf ihn ein wie ein Serienmörder?“ Die Stimme meines Lehrers in Schwertkunst scholl durch das riesige Gemäuer der Trainingshalle. Stur ignorierte ich ihn und drosch weiter blind vor Wut auf die Übungspuppe, Dummy genannt, ein. Das tat ich jetzt seit mindestens zwei Stunden und abgeregt hatte ich mich immer noch nicht. Im Gegenteil, von Schlag zu Schlag schwoll mein Zorn weiter an. Vage hörte ich, das Mr. Carell mich ein weiteres Mal anblaffte, doch ich blendete ihn konsequent aus. Als meine Gedanken ein paar Stunden zurückwanderten, wurden meine Schläge noch stärker und wanderten weiter nach unten zum Unterkörper. Am liebsten würde ich jetzt zu diesem Arschloch laufen und ihm, anstatt diesem dämlichen Dummy eine reinhauen. Stattdessen stach ich weiter auf die braunhaarige Übungspuppe ein und verunstaltete seine hässliche Visage. Bei jedem Hieb stellte ich mir vor, die Puppe wäre Hakan und schon flammte meine Wut wieder auf. Dieser verfluchte Idiot. Er hatte mich einfach angefasst und … zwei grobe Hände packten mich von hinten an den Schultern und rissen mich zurück. Hätte ich mein Schwert nicht derart fest umklammert, wäre es bestimmt zu Boden gefallen.
„Verdammt, lassen Sie den Scheiß“, schnauzte ich Mr. Carell an.
„Klappe Blair. Sie vergessen wieder einmal wer hier der Lehrer und wer der Schüler ist. Sie können ihre Aggressionen doch nicht so an dieser Übungspuppe auslassen. Wie haben Sie das überhaupt angestellt. Der gesamte Oberkörper mitsamt den Genitalbereichen ist zerfetzt!“
„Das waren doch Sie, der mir geraten, hat meine Wut in den Schwertkunststunden rauszulassen“, konterte ich.
„Doch. In Form von Schwertkunst. Ich betone Kunst. Nicht indem Sie wie ein Meuchelmörder auf diese bemitleidenswerten Kreaturen eindreschen.“
Bemitleidenswert. Hilfe! Ich glaube ich ersticke vor Lachen!
Mitleid und Mr. Carell, ein Widerspruch in sich. Carell hatte weder Mitleid mit seinen Schülern noch mit sonst irgendwem. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb ihn die Courtney-High als Obersten Schwertmeister eingestellt hatte. Er war mitleidslos und hartherzig. Aber er verschwendete seine Energie nicht mit Brutalität. Obwohl, wenn man betrachtete wie grob er mich an den Schultern gepackt hatte…
„FLORENCE BLAIR! Hören Sie augenblicklich auf zu lachen. Was fällt ihnen eigentlich ein? Ihnen könnte eine gehörige Portion Disziplin und Züchtigung nicht schaden. Und wenn ich so, ohne Vorurteile, auf ihre Leistungen in Schwertkunst, Spionage und Entfesselung schaue …“
Entnervt blendete ich das gestelzte Geschwätz meines Lehrers aus: ohne Vorurteile, schön wär’s. Nur leider brachte Carell mir mehr als genug Vorurteile entgegen. Schon vom ersten Tag, an dem ich zur Courtney- High gegangen bin, hasste er mich. Wahrscheinlich lag das daran, dass er meine Mutter, Abigail Blair, genauso wenig hatte ausstehen können, wie mich. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
„… wissen Sie, Brot kann wenigstens schimmeln, aber Sie können überhaupt nichts, und deshalb bin ich der Meinung, ein Nachhilfe-Lehrer wäre die beste Option für eine rebellische, verzogene Göre wie Sie.“ Peng! Das saß. Völlig perplex starrte ich in Carells hageres Gesicht. Wie immer wenn er aufgeregt ist, traten seine stahlblauen Glupschaugen beträchtlich hervor. Früher hatten meine Freunde und ich in immer den Thunfisch genannt, keine Ahnung mehr warum. Obwohl, die Ähnlichkeit war unübersehbar. Von den Proportionen passten keine seiner Körperpartien zueinander. Der Mund war zu klein, die Augen zu groß und die Stirn viel zu hoch. Im Allgemeinen würde ich nicht zögern, Mr. Carell, als den hässlichsten Menschen zu bezeichnen, der mir je unter die Augen gekommen war. Außerdem hatte ich eines schon in meinen ersten Jahren auf der Courtney gelernt: Wenn du überleben willst, provoziere nie Mr. Carrell!!! Jetzt allerdings warf ich alle meine guten Vorsätze über Bord und ließ eine Schimpftirade von der Latte, die kleine Kinder vollkommen verstört hätte. Für gewöhnlich werfe ich in der Regel nicht wahllos mit Obszönitäten um mich, aber jetzt war ein Sonderfall: „Sagen Sie Mal haben sich jetzt auch Ihre letzten 5 Gehirnzellen verflüchtigt? Oder sinkt Ihr IQ jetzt auf etwas unter der Raumtemperatur? Ein Nachhilfe-Lehrer? Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, das Sie mein Todesurteil fällen dürfen? Meine Mum wird mich killen! Sie wird mich knallhart umbringen! Florence, ihre Problem-Tochter braucht jetzt einen Nachhilfe-Lehrer, und das auch noch in den Fächern, in denen sie Klassenbeste war. Verdammte Scheiße!”
Während meines Ausbruchs waren die Augen meines Lehrers beträchtlich angeschwollen und drohten jetzt jeden Augenblick aus ihren Höhlen zufallen. „Was fällt ihnen eigentlich ein?! S …Oh, da sind Sie ja endlich. Wurde ja auch langsam Zeit!“
„Mr. Carell! Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen!“, spottete eine Stimme hinter mir. Wie von einem Stromschlag angetrieben fuhr ich herum. Eines der ersten Dinge, die man auf der Courtney lernt, ist: Sei immer wachsam und lass dich niemals von jemandem überraschen! Und genau das war mir eben passiert. Verdammt, das war peinlich! Suchend sah ich mich nach dem Ursprung der Stimme um, fest entschlossen ja nicht wieder etwas falsch zu machen. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ein Typ um die 18 lässig an einem Dummy, einer klassischen blonden Schönheit. Mit purer antrainierter Willenskraft konnte ich meine Mundlade davon überzeugen, dass es besser war an ihrem Platz zu bleiben. Scheiße sah der Typ gut aus!
„Das ist also das Mädel, dem ich Nachhilfe geben soll?!” Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Scheint sie auch wirklich nötig zuhaben. Hast du geschlafen, als euch die Grundlagen des Ninjutsu beigebracht wurden? Ach übrigens Carell”, er deutete grinsend auf den blonden Dummy “die Blonde da drüben ist heiß. Ihr solltet allen Dummys so‘n Aussehen geben, dann wären die Kampfkunst Stunden interessanter! Blond ist einfach scharf!”, er fuhr sich nachdrücklich durch seine goldblonden Haare. Wie magisch angezogen folgte mein Blick seiner Bewegung und wanderte anschließend zu seinem sonnengebräunten Gesicht. Vergeblich versuchte ich ihn nicht anzuschmachten und ihn stattdessen professionell zu analysieren: Blonde Haare, goldene Raubkatzenaugen mit bernsteinfarbenen Splittern, hohe Wangenknochen, muskulöser Körper … und ein zu einem spöttisch- arroganten grinsen verzogener Mund.
Zeig ihm bloß nicht, wie sexy er ist Florence, wies ich mich grob zurecht. So arrogant, wie der war, liefen ihm die Mädchen bestimmt scharenweise hinterher, kein Wunder, bei dem Aussehen!
Provokant sah ich ihm in die goldenen, funkelnden Augen und sagte kalt: „Wusstest du schon, das blond keine Haarfarbe, sondern ein Zustand ist?”
Für einen Augenblick schien er aus dem Konzept gebracht zu sein. Eine Spur Verwirrung mischte sich in das betörende Gold seiner Augen, wurde aber sofort wieder von der Arroganz und der Amüsement verdrängt. Gaff ihn nicht an wie ein liebeskranker Teenager, Florence!
„Wusstest du schon, dass Dunkelhaarige als launisch und leicht zu beeindrucken gelten?”
Empört riss ich meinen Mund auf, bereit ihm eine schlagfertige Antwort entgegen zuschleudern, doch Mr. Carell unterbrach mich. “Florence halten Sie einmal in Ihrem Leben die Klappe und denken zuerst nach, bevor Sie reden!” Ein diebisches Lächeln lebte sich auf sein Thunfisch-Gesicht: ”Im Übrigen sind Sie die Erste, die ihm nicht vom ersten Augenblick an zu Füßen liegt!”
Das glaubte ich ihm aufs Wort! Um ihm das Gegenteil zu beweisen, schnaubte ich abfällig: „Und hat dieser Kerl”, ich wies mit einer ausladenden Handbewegung auf den Goldäugigen, der mich mit einem katzenhaften Lächeln anfunkelte „auch einen Namen, oder reicht arrogantes Arschloch?”
Mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht erwiderte der Typ anstelle Carells: „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz!”
Nach einer Antwort ringend warf ich meine Arme mitsamt Schwert in die Höhe: „Himmel, eigentlich wollte ich meine Wut auf Hakan abbauen, aber das wird wohl nichts, wenn mein sogenannter Nachhilfe-Lehrer ein noch größerer Idiot ist!“
Die Wut durchflutete mich ohne Vorwarnung erneut bei dem Gedanken an Hakan, verbunden mit dem spöttischen Grinsen des Goldäugigen. Zornig stieß ich mein Schwert, aus mir unbekannten Gründen, mitten durch das hübsche Gesicht der Dummy-Blondine.
„Und das passiert bei mir mit den dämlichen Blonden, die sich für was Besseres halten!“ Achtlos ließ ich mein Schwert im Gesicht des Dummys stecken und rauschte aus der Trainingshalle.
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