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Rheas Beerdigung lag Tia immer noch tief in den Knochen. Sie hatte ihre Mutter nicht einmal gefragt, ob Sie am nächsten Tag zuhause bleiben könnte, da ihr die Antwort sowieso egal wäre. Lustlos und gebrochen wie sie war, flüchtete Sie sich nur noch mehr in ihre Gedankenwelt und erkundete jeden ihrer Gedankengänge, verlief sich teilweise oder musste an Sackgassen kehrt machen. Ähnlich wie das, was Sie momentan erlebte, stellte Sie sich einen Spaziergang durch die Hölle vor. Langsam, qualvoll und niemals endend. Das schlimmste war jedoch, dass Sie ihre eigenen vier Wände nicht mehr ertragen konnte. Sie wollte weg. Einfach raus und den Kopf etwas erleichtern. Doch gleichzeitig wollte Sie keiner Menschenseele begegnen, was in einem Dorf wie ihrem recht schwierig war. Hier kannte jeder jeden und alle wussten über ihre Nachbarn mehr bescheid, als diese jemals zu träumen wagten. Dennoch fühlte Sie sich eingeengt. Eingeengt von ihrem Zimmer, ihrer Mutter, ihren Gedanken und am meisten von sich sich selbst. Alles erdrückte Sie immer mehr. Sie hielt es einfach nicht mehr aus auf ihrem Bett zu sitzen, die Musik bis zur obersten Grenze aufzudrehen und sich von ihrem Kummer einnehmen zu lassen. 

Entschlossen hievte Sie sich aus dem Bett, das Sie nur für die Beerdigung verlassen hatte, griff nach ihrem Rucksack und ersetze dessen Inhalt durch eine Wasserflasche. Auf dem Weg aus ihrem Zimmer langte Sie nach ihren Kopfhörern und ihrem Handy und verließ dann, schnellen Schrittes, den Raum. Im Flur zog Sie sich Sneaker an und setzte ihre Kopfhörer auf, um die laute Außenwelt, die sie draußen erwartete, etwas erträglicher zu machen. Sie zwängte sich durch die Haustür, schloss diese hinter sich und blieb kurz stehen. 

Sie war keine Minute an der Luft und schon schien ihr alles wieder zu viel zu werden. Das grelle Tageslicht schien in ihren Augen ein unangenehmes Feuer zu entfachen, gegen das selbst die Kälte der Luft keine Chance hatte. Sie könnte umdrehen und sich einfach weiter isolieren, einfach weiter vor sich hin leben, wie Sie es bis dato getan hatte. Ihr Zimmer verband Sie allerdings überwiegend mit negativen Emotionen. Trauer. Einsamkeit. Frustration. Viel schlimmer als dieses Gefängnis konnte die Außenwelt nicht sein, oder? Entschlossen setzte Sie einen Fuß vor den anderen, ziellos, wie immer. Ein wenig Nervosität machte sich in ihr breit. Sie wollte keiner Menschenseele begegnen, wirklich niemandem. Die Musik auf ihren Ohren dröhnte durch ihre Gehörgänge und floss direkt zu ihrem Herzen. Anfänglich konzentrierte Sie sich noch auf den Weg, den Sie entlang lief. Nach und nach wurde der Weg nur noch zu einer Spur aus  Asphalt und schlussendlich nahm Sie ihn kaum noch wahr. Ihre Füße schienen Sie fast schweben zu lassen, so vertieft war Sie in den Mix aus Musik und ihren Gedanken. Musik schien etwas in ihr auszulösen, das Menschen nie geschafft haben. Sie könnte ewig so weiter laufen. Selbst die Menschen auf der Straße waren ihr mehr oder weniger egal. Sie fühlte sich fast so, als wäre Sie unsichtbar. Dieser Zustand sollte ewig anhalten. Niemals hätte Sie gedacht, dass ihr die Außenwelt ein solch angenehmes Gefühl in verleihen könnte.

Plötzlich wurde Sie aus ihren Gedanken herausgerissen, als hätte jemand den Stecker für das Leben wieder in die Steckdose gesteckt. Sie befand sich inmitten einer ihr riesig erscheinenden Menschenmasse. Leicht schockiert blieb Sie stehen und schaute sich verwirrt um. Ihr Blick blieb an einem Schild hängen. BIBLIOTHEK. Genau das, was Sie jetzt gebrauchen konnte. Sie zwängte sich durch die Horde von Menschen, bemüht niemandem in die Augen zu schauen. Erleichtert drückte Sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die schwere Eingangstür der Bibliothek und sobald Sie sich im Inneren befand, konnte man förmlich unglaublich viele der Gewichte, die an Tias Seele hingen, herabfallen hören. Das leicht gedämmte Licht und die rustikale Einrichtung des Raumes ließ diesen Ort fast etwas magisch wirken. Sie erkannte diese Bibliothek wieder. Als Kind war Sie mit ihrem Vater oft hier. Beide fühlten sich früher unvorstellbar wohl inmitten der Buchstaben und kreativen Inhalte, die sich zwischen den Buchumschlägen verbargen. Bei dem Gedanken an ihren Vater schien sich ihr Herz zusammen zu ziehen. Sie konnte nie verstehen, wie ein Mensch sich innerhalb weniger Jahre so sehr ins negative verändern kann, dass man alles dafür tun würde, ihm nie wieder zu begegnen. Immer noch etwas erdrückt von der Menschenmasse, die sich auf der anderen Seite der Tür befand, blieb Sie einen kurzen Moment wie angewurzelt stehen, nahm ihre Kopfhörer ab und ließ ihren Blick über all die Bücher, die Sie umgaben, schweifen. 

Souls & CloudsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt