Sie versuchte, all das was um Sie herum passierte, zu begreifen. Doch Sie scheiterte. Sie wollte wirklich verstehen, warum die Dinge so waren,wie sie nun einmal waren. Oder sollte sie einfach alles so akzeptieren und versuchen, das Beste daraus zu machen? Das Gefühl des Vermissens schien tonnenschwere Gewichte auf Tias Brustkorb zu entladen und ihr Herz immer schwerer schlagen zu lassen. Sie hatte sich schon oft einsam oder allein gefühlt aber diese Form der Einsamkeit machte Sie komplett fertig. Sie war vorher bereits am Boden gewesen doch jetzt drückten die Gefühle Sie förmlich in den Beton. Es fühlte sich nicht nur so an, als wäre eine ihr nahestehende Person gestorben. Es fühlte sich so an, als wäre Sie selbst gestorben. Als hätte Sie Rhea ein Stück ihres Herzens mit ins Grab gelegt. Warum sollte Tia ihr nicht einfach folgen? Dann könnten Sie im Himmel wieder vereint auf alle anderen, noch Lebenden blicken und den Trubel der Menschen beobachten. Von einer solchen Perspektive mussten wir Menschen wie ein riesiger Ameisenhaufen wirken. Nur mit dem Unterschied, dass Ameisen sich nicht selbst zerstören. Und vorausgesetzt, dass es überhaupt so etwas wie einen"Himmel" gab. Tia glaubte nichts, das man nicht beweisen konnte, schloss dementsprechend aber auch nichts aus.
Rhea würde nicht wollen, dass Tia sich ebenfalls umbringt. Und Tia wollte Rhea nicht enttäuschen. Aber wie sollte Rhea das überhaupt noch mitbekommen? Sie war doch sowieso tot. In ihrem Sarg unter der Erde verrottend... zumindest betraf das ihren Körper. Ihre Seele war nun wieder frei.Vor Tias innerem Auge spielte sich erneut ab, wie der Sarg in die Erde herabgelassen wurde und mit ihm sämtliche Erinnerungen an Rhea. An ihr Lächeln, was so schön und dennoch so selten war. An ihre Haare, die glänzender nicht sein konnten. An ihre Statur. Wie sie in voller Pracht vor Tia stand. Wie sie einfach lebendig war. Wie sie äußerlich so glücklich und innerlich total kaputt war. Ihre Seele musste so zersplittert sein wie ein Spiegel, der auf die Fliesen fiel. Und in dessen Reflexion konnte Tia sich selbst erkennen. Nicht vollständig, da einige Teilchen fehlten oder zu zerstört waren.
In Tias Kopf spielte sich die gesamte Beerdigung erneut ab. Und mit diesen Erinnerungen kamen auch die Gefühle, immer und immer wieder zurück. Es waren nicht viele, aber dafür wichtige Menschen anwesend. Rheas Mutter, dessen Augen die meiste Zeit ungläubig und leer auf den Sarg starrten. Rheas Vater, der sich alle Mühe gab, seine Frau zu trösten, obwohl er selbst Trost benötigte. Rheas Großeltern, welche voller Liebe und Trauer ihren Blick auf das Grab richteten. Eine ehemalige Klassenkameradin, mit der sie immer gut in Kontakt stand. Ein Onkel und eine Tante mit ihren Familien. Das waren bei weitem nicht alle Verwandten, die Rhea hatte doch es gab einen Grund, weshalb nur ein paar bestimmte anwesend waren. Sogar ihre beste Internetfreundin war angereist. Sie hatte ebenfalls einen Abschiedsbrief erhalten und sich gleich darauf um Kontakt zu den Eltern bemüht. Tia redete mit kaum jemandem auf dieser Trauerfeier. Normalerweise hatte Sie auch kein Problem mit Menschen, die nur schwarze Kleidung trugen, Sie war ja teilweise selbst einer davon. Aber in diesem Zusammenhang fühlte es sich anders an. Die traurigen Gesichter, aus denen man förmlich jeden einzelnen Gedanken entnehmen konnte, in Verbindung mit der schwarzen Kleidung und dem leichten Sprühregen erzeugten eine unfassbar bedrückende und gleichzeitig klischeehafte Atmosphäre. Egal wohin Sie schaute, überall traf Sie auf Dunkelheit oder mit Trauer gefüllte Augen. Diese gesamte Situation schien genau abzubilden, wie es in Rheas und auch in Tias Kopf aussehen musste. Der einzige Hoffnungsschimmer der noch existierte, war in den Himmel zu kommen. Irgendwie musste es sich doch lohnen, weiter zu kämpfen. Da das laut dem religiösen Glauben allerdings bei Selbstmord nicht möglich war, zerplatzte auch dieser Gedanke recht schnell.Ihr Körper schien durch all diese Gedankengänge förmlich mit ihrem Bettlaken zu verschmelzen. Diese gesamte Beerdigung war mitreißender und schwerfälliger als alles andere, was Tia bisher erlebt hatte. Dennoch hatte Sie die ganze Zeit das Gefühl, dass jemand anwesend war, der nicht anwesend sein sollte. Egal wie oft Sie sich umsah, den Blick nach links und rechts schweifen ließ, Sie konnte in keinem dieser trauernden Gestalten eine komplette Fremdheit ausmachen. Allerdings wollte Sie sich eher ungern den Kopf darüber zerbrechen. Rhea war weg. Für immer. Das war das einzige, was für Sie von größerer Wichtigkeit war. Sie würde Rhea nie wieder sehen. Alle Zukunftspläne lösten sich in der Luft auf und rissen sämtliche Erinnerungen an die Vergangenheit mit sich. Eine weitere Seele, die nun in der Nacht den Sternenhimmel zierte. Eine weitere Seele, zu der Sie hinaufblicken konnte. Ein weiterer, kleiner Punkt, gefangen in einem Meer aus Dunkelheit.

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Souls & Clouds
Roman pour Adolescents"Kälter als diese Welt konnte der Schnee nicht sein." Nach dem Tod ihrer besten Freundin scheint Tias Leben noch sinnloser, als es so schon war. Die verschiedensten Eindrücke brennen sich in ihren Kopf, Menschen hinterlassen dort ihre Fußspuren und...