Ihre Mutter wusste genau, dass es keinen Zweck hatte weiter im Zimmer herum zu stehen. Mit gesenktem Kopf und schnellen Schritten verließ sie das Zimmer und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Tia wendete ihren Blick nicht von der Decke ab, ganz im Gegenteil. Ihr Kopf war randvoll und dennoch unfassbar leer. Die Gedanken schienen sich gegenseitig zu unterbrechen, jeder wollte der wichtigste sein doch keiner konnte zu Ende gebracht werden. Alles schien in einer Dunkelheit zu enden und sich immer mehr zu verirren. Je länger Sie an die Decke starrte, desto mehr jagte sie das Gefühl all diese Gedanken einzig und allein aus dieser weißen Decke zu saugen. Als würde jedes Problem einfach auf Sie zugeflogen kommen und Sie als Wirt missbrauchen. Sie sog ein letztes Mal ihre Tränen mit ihrem Ärmel auf, setzte sich auf und ließ ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen um sich einen Überblick zu verschaffen. Alles war so gewohnt. Fast schon langweilig. Ihre Möbel standen an demselben Platz und ihre Dachschräge war immer noch mit sämtlichen Kritzeleien und Bildern behangen. Schleppend kam Sie wieder in der Realität an und spürte, dass Sie am Leben war.
Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und hievte sich anschließend aus ihrem Bett. Sofort überkam Sie ein erneutes Gefühl der Kälte als Gefährte der Krankheit, die sich in ihr breit machte. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und ließ den Blick an sich herunter gleiten. Sie trug dieselben Kleider wie in der letzten Nacht, sofern es sich dabei überhaupt um die letzte Nacht handelte. Mit zittrigen Händen zog sie ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche aus, ging zur Kommode und nahm wahllos einen großen Pullover und eine Leggins heraus, um ihrem Körper etwas Wärme zu schenken. Ihr Blick wanderte erneut durchs Zimmer und blieb an dem großen Spiegel hängen. Sie nahm die Silhouette ihres Körpers wahr und musterte ihr deprimierendes Erscheinungsbild. Langsam bewegte Sie sich in Richtung des Spiegels, kam ihrer Hülle immer Näher und blieb schlussendlich direkt vor ihrem eigenen Abbild stehen. Sie starrte ihrem Spiegelbild in die Augen, wenig erstaunt darüber, wie glanzlos diese waren. Früher verglichen ihre Freunde ihre Augen immer mit Smaragden. "Sie leuchten genauso grün.", meinten sie. Dabei war es lange her, dass diese glänzten, geschweige denn, dass Sie etwas mit ihren Freunden zu tun hatte. Ihr dunkles Haar hing leicht zerzaust an ihrem Gesicht herab. Die Mundwinkel waren gesenkt. Sie ließ den Blick weiter an sich herabsinken. Der Pullover überdeckte ihren schlanken Körper bis zu den Oberschenkeln und ihre Beine stachen wie zwei Grashalme darunter hervor. Jedes andere Mädchen ihrer Klassenstufe würde Sie um ihre Figur beneiden, doch Tia hasste sie. Nicht nur, dass solche Hüllen Menschen anzogen, die oberflächlicher nicht sein könnten, sondern auch, dass sie darin gefangen war und nicht entfliehen konnte. Das trieb sie fast in den Wahnsinn. Diese Gesellschaft war so kaputt. Außer Geld hatte alles zwischenmenschliche seinen Wert verloren. Sogar die Liebe zweier Menschen schien für viele von geringer Wichtigkeit.
Schlagartig wanderten Tias Gedanken zurück zu ihrem Traum. Wer war dieser Mensch, den sie dort sah? Und warum gab dieses fiktive Wesen ihr ein Gefühl, dass sie niemand zuvor auch nur ansatzweise spüren ließ?
Erdrückt von dem Gedanken an die Einsamkeit, welcher Sie verfolgte, drehte Sie sich vom Spiegel weg und lief in Richtung des großen Fensters, an dem Sie im Traum gesessen und den Brief gelesen hatte. Sie ließ sich auf dem Fensterbrett nieder und richtete den Blick in Richtung der dunklen Außenwelt. Der Mond erleuchtete die Umgebung ein wenig, unterstützt von einzelnen Laternen am Straßenrand. Die kleinen Lichtkegel wiesen einen Weg durch die Dunkelheit, wie kleine Hoffnungsschimmer. Genau das, was Tia fehlte, das war ihr bewusst. Aber woran sollte Sie sich denn fest klammern? Es gab nichts, das sie anstrebte. Ihre Freundschaften gingen zu Grunde, ihr Familienleben war schon lange zerstört und die Schule war der pure Horror. Tia dröhnte der Kopf bei dem Gedanken an die Schule und sofort versuchte sie sich abzulenken. Allerdings war das einzige, an das sie noch denken konnte, der Traum. Ihr Magen zog sich zusammen und sie spürte, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten, wartend darauf, als erste ihre Wangen herunter zu gleiten. Warum verlor man vieles so schnell, wie man es bekommen hatte? Warum ließen Menschen andere Menschen allein? Und warum wollten manche Menschen von allen in Ruhe gelassen werden? Auch wenn Tia sich bereits an die Einsamkeit, die sie umgab, gewöhnt hatte, sehnte sich ein kleiner Teil ihres Herzens nach ein wenig Zuneigung. Sie lehnte ihren Kopf an die Wand und schloss die Augen. Warum konnte ihr Kopf sie nicht ein mal in Ruhe lassen? Sie wollte die Gedanken ersticken, bevor Sie davon erstickt wurde. Alles schien so unglaublich unnütz. SIE schien so unnütz. Die Verzweiflung lastete schwer auf ihren Schultern und schien Sie in die Knie zu zwingen, doch Sie wollte stark bleiben. Es musste doch eine Bestimmung für sie geben. Irgendetwas musste doch existieren, das ihr neue Hoffnung gab. Dieser eine Gedanke war das, was sie momentan überhaupt noch am Leben hielt. Der einzige rote Faden, den es in ihrem Leben gab. Würde sie sich früher oder später an diesem Faden erhängen?

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Souls & Clouds
Genç Kurgu"Kälter als diese Welt konnte der Schnee nicht sein." Nach dem Tod ihrer besten Freundin scheint Tias Leben noch sinnloser, als es so schon war. Die verschiedensten Eindrücke brennen sich in ihren Kopf, Menschen hinterlassen dort ihre Fußspuren und...