sanfte Berührung

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»Sind Sie sich sicher, dass er der gesuchte Terrorist ist?«
Mycroft Holmes beugte sich über seinen prunkvollen Schreibtisch zum Londoner Detective Inspector Gregory Lestrade vor. Er schien doch tatsächlich anderer Meinung zu sein, stellte Gregory gereizt fest.
»Alle Hinweise deuten auf ihn hin. Er muss es gewesen sein.«
»Da liegen Sie leider falsch«, quittierte Mycroft mit seinem herabschauenden Lächeln, das er in jedwiger Situation aufzusetzen schien, in der er überlegen war.
»Warum denn? Alles spricht für ihn. Er hat den Anschlag in Scottland Yard zu verantworten!«
Wütend zündete sich Gregory eine Ziggarrette an; es machte ihn langsam, aber sicher fertig.
»Rauchen ist schädlich für die Gesundheit und dieser Qualm!«
Übertrieben wedelte Mycroft den Ziggarrettenrauch in Gregorys Richtung. Dieser verdrehte innerlich nur die Augen. Es war schließlich nicht gleich der Weltuntergang, einmal eine zu rauchen; Gregory war nämlich nur Gelegenheitsraucher und bis eben hatte er sich vor seinem Vorgesetzten nicht einmal eine Zigarette angezündet. Heute aber hatte es sein müssen, da er das in seine Atemwege eindringende Nikotin brauchte, um nicht völlig durchzudrehen.
»Wenn er es nicht war, wer war es dann?«, fragte er genervt und drückte die Ziggarrette im Aschenbecher aus, der auf dem Tisch stand. Aber warum stand dort einer? So wie der sich benam, rauchte Mycroft Holmes sicherlich nicht.Wieso hatte er dann einen Aschenbecher? Der Polizist presste nachdenklich die Lippen auf einander.
»Er humpelt.«
»Was?«
Verwirrt sah Gregory Mycroft an. Dessen Augen hatten einen leicht bräunlichen Schimmer und erinnerten ihn grade an Karamellbonbons.
»Dieser angebliche Terrorist, er hat ein lahmes Bein. So wie er den Fuß aufsetzt ist der Schmerz wohl eher im Knie. Vermutlich von einem Treppensturz verursacht. Er hätte die Bombe nie in zehn Minuten in den zweiten Stock bringen und dann wieder unauffällig die Treppe runter laufen können. Es wird wohl eher jemand aus seinem Umfeld sein, denn irgendwie müssen seine Fingerabdrücke ja auf den Karton gekommen sein, in dem die Bombe war. Fragen Sie ihn, ob er in letzter Zeit ein Paket für Nachbarn angenommen hat.«
Mycroft lehnte sich in seinem schwarzen Ledersessel befriedigt zurück und musterte Gregory argwöhnisch.
»Und das haben Sie natürlich alles nur auf Grund simpler Fakten deduziert«, gab dieser eingeschnappt von sich. Bei den Holmesbrüdern, fand er, war es ja immer das Gleiche.
»Ja, damit haben Sie voll und ganz Recht.«
Mycroft lächelte süffisant, das verlieh seinen Augen einen spitzbübischen Ausdruck, was Gregory fast zum Schmunzeln brachte. Diese Augen gefielen ihm.
»Verstehe. Ich kümmere mich darum, den waren Täter zu fassen!«
»Und diesmal auch bitte den richtigen«, fügte Mycroft noch hinzu, aber Gregory spürte, dass dieser es nicht böse meinte. Es war einfach seine Art.
»Wie geht es Ihnen, nach diesem explosionsartigem Ereignis?«, fragte Mycroft und runzelte die Stirn.
»Mein Büro wurde etwas in Mitleidenschaft gezogen. Die Wand ist hin, aber zumindest gibt es keine Verletzten. Und das wissen Sie. Sie wissen doch generell immer alles, warum fragen Sie überhaupt?«
»Weil alle Fakten mir dennoch nicht sagen, wie genau es Ihnen geht. Der Anschlag war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Mordversuchen gegen Sie. Also: Wie geht es Ihnen?«, fragte Mycroft unbeeindruckt von Gregorys Worten wieder. Dieser war grade etwas verblüfft, Mycroft Holmes wollte wissen, wie es ihm ging? Und das bei einem der Holmesbrüder, welches Wunder!
»Mir geht es gut«, stammelte er.
»Sie lügen«, kam darauf von Mycroft, der ein finsteres Gesicht machte.
»Das werde ich ja wohl noch selbst beurteilen können!«, rief Gregory erbost.
»Nicht, wenn ich es besser kann. Ihre Hände zittern schon die ganze Zeit, Sie sind ungewöhnlich reizbar und sehen nicht so aus, als hätten Sie letzte Nacht geschlafen. Das trifft doch zu, oder?«
Etwas verlegen nuschelte Gregory ein »Ja, so ist es« und schaute auf den Boden.
»Und gefrühstückt haben Sie, wie ich sehe, auch nicht!«, rief Mycroft empört. Wie auch immer er das jetzt wieder rausgefunden hatte. Aber das alles ging ihn doch eigentlich überhaupt nichts an, dachte Gregory. Ob er nun geschlafen, gefrühstückt oder was auch immer tat oder nicht tat, das ging Mycroft nichts an. Dieser Mann erlaubte sich, seiner Ansicht nach, einfach zu viel.
»Es ist nicht Ihr Job, mein Privatleben zu deduzieren! Ich komme gut allein klar!«, rief er deshalb. Doch Mycroft schien ihn gar nicht mehr zu beachten, er war aufgestanden und zog sich sein Jackett über.
»Was um Himmels Willen machen Sie da?«, fragte Gregory genervt.
»Sie und ich gehen jetzt was essen«, sagte er und setzte eine Art Grinsen auf, was sehr unnartütlich war.
»Warum?«, fragte Gregory ziemlich verwirrt. Mycroft Holmes wollte mit ihm was essen gehen? Er sollte langsam anfangen, sich Sorgen zu machen.
»Um die Ecke ist ein Donutshop. Sie haben doch eine Schwäche für Donuts, oder?«
Er reichte Gregory seinen Mantel.
»Ja, aber wieso wollen grade Sie jetzt mit mir essen?«
»Ich kann nicht zulassen, dass Sie in schlechter Verfassung sind. Wo würden wir denn da hinkommen? Nein, Sie bekommen jetzt was zu essen.«
Er nahm einen schwarzen Regenschirm aus dem Halter und ging an Gregory vorbei zur Bürotür.
»Können wir?«, fragte er.
»Okay... Ähm, meinetwegen schon...«
Noch immer etwas verwirrt folgte er Mycroft nach draußen. Unter dem Vordach des Hauses spannte Mycroft den Regenschirm auf, da es in Strömen regnete. Gregory beobachtete ihn stumm. Was dachte Mycroft sich bei dieser Aktion nur? Er konnte sich darauf keinen Reim machen.
»Nun kommen Sie schon«, sagte Mycroft und holte ihn damit aus seinen Überlegungen.
»Aber ich habe keinen Schirm«, stammelte er.
»Sie kommen einfach mit unter meinen«, erwiderte Mycroft wie selbstverständlich.
»Aber das geht doch nicht!«
»Warum nicht? Ich werde schon nicht beißen«, sagte Mycroft und klang beleidigt.
»Ist ja gut«, meinte Gregory schließlich, da er einen unnötigen Streit vermeiden wollte. Er stellte sich zu Mycroft unter den Schirm und versuchte größt möglichen Abstand zu diesem aufzubauen. Mycroft seufzte augenblicklich und sagte mahnend:
»So werden Sie auch nur nass. Etwas Hautkontakt zu mir werden Sie schon zulassen müssen.«
Beschämt kam Gregory noch näher und stellte sich halb hinter Mycroft. Er spürte dessen warmen Rücken, sein Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus.
»Halten Sie sich auch am Griff fest«, sagte Mycroft befehlerisch. Mit zittriegen Fingern umfasste Gregory Mycrofts Hand, die den Schirm hielt. Das war ihm einfach so peinlich.
»Nun können wir gehen«, flötete Mycroft etwas fröhlicher gelaunt und setzte sich in Bewegung. Gregory spürte Mycroft atmen und vernahm auch dessen Pulsschlag; die Berührung seiner Hand führte Wärme durch seinen Körper. Mycroft war so schön warm, er würde sich am liebsten an ihn schmiegen. Welch Schmach!, dachte er plötzlich. Nein, er würde sich doch niemals an Mycroft Holmes 'schmiegen', allein dieses Wort. Dennoch brachte die Berührung ein warmes Gefühl mit sich, was sich langsam aber sicher in Gregorys Brust breit machte.
Um sich davon abzulenken, richtete er seinen Blick auf die Straße und beobachtete das Niederprasseln kleiner Regentropfen, die manchmal sanft und manchmal hart auf die Erde fielen. Ein richtiger Regentag war heute, dachte er. Und das war eventuell gar nicht mal so schlecht, da er, Gregory Lestrade, mit Mycroft Holmes unter einem Regenschirm stehen konnte.
»Trödeln Sie doch nicht so. Oder sind Sie etwa eingeschlafen?«, sagte Mycroft ein bisschen höhnend, mit seinem süffisanten Lächeln.
»Oh... Entschuldigung.«
Verlegen ging Gregory etwas schneller an Mycrofts Seite.
Seine Hand runtschte allmählich von Mycrofts, da er immer noch nicht ganz mithalten konnte. Doch dieser legte seine andere Hand auf Gregorys, umfasste sie regelrecht damit, Gregorys Herz schlug etwas schneller und ihm wurde ganz heiß. Mycroft schien dies zu bemerken, drehte sich zu ihm hin und grinste verschlagen, seine Augen schienen belustigt zu funkeln. Dieser verfluchte Regentag, schalt Gregory im Stillen, da Mycroft ihn nie hätte so sehen sollen. Das war eine Pein, zumal Mycroft ja in gewisser Hinsicht ein Vorgesetzter von ihm war. Aber egal wie er sich selbst schalt, es half nichts. Er ging unveränderbar noch immer nah an Mycroft Holmes, unter einen Regenschirm gezwängt und auf dem Weg zu einem Donutgeschäft. Warum musste es auch grade heute regnen?

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