Plektrum

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Kapitel 11
Heartbeats
[Florence Tremblay]

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"Oh scheiße", wiederhole ich immer wieder, während ich auf dem Nagel meines Daumens herumbeiße. Mit großen Schritten eile ich den kahlen Gang entlang. Immer weiter, bis ich eine schwere Metalltür mithilfe meiner Schulter aufstoße. Mein Blick springt im Sekundentakt zwischen den vielen Tischen hin und her. Auf jedem stehen zahlreiche weiße Plastikkisten. Und nur eine kann mich vor dem sozialen Selbstmord bewahren.

"Schrauben, Kabelbinder, Taschentücher, Nägel, Gitarrensaiten", überfliege ich die gelben Etiketten, die die vielen Kisten beschriften. Auch wenn ich mich darüber wundere, wieso eine volle Box an Taschentücher von Land zu Land mitgeschleppt wird und wieso die Kisten so wild durcheinander angeordnet sind, habe ich nicht viel Zeit weiter darüber nachzudenken. "Verbandskasten, Crew T-Shirts in Größe M, Plektren, OROPAX", murmle ich weiter vor mich hin.

Gerade will ich auf die andere Seite des Raumes wechseln, um dort die nächsten Etiketten zu lesen, als mein Kopf zurückschnellt. "Plektren!", rufe ich euphorisch aus. Zum Glück bin ich die Einzige hier. Ansonsten hätten mich die anderen Crewmitglieder schon längst für verrückt erklärt. Schnell hebe ich den weißen Deckel an und blicke auf Hunderte von schwarzen Plektren nieder.

Jedes ist auf einer Seite durch das Konterfei von Shawn geziert, während die andere Seite mit seiner Signatur bedruckt ist. Ohne nachzuzählen, greife ich großzügig in die Kiste hinein und nehme eine Handvoll Plektren heraus. Dann renne ich regelrecht den Weg, den ich vorhin gekommen bin, wieder zurück.

Nach Atem ringend halte ich hinter der Bühne an. Während ich meinen Puls, der durch die Anspannung immer weiter steigt, deutlich an der Halsschlagader spüre, höre ich Shawns brechende Stimme durch die Anlage schallen. Nachdem ich mir die große Kapuze des Pullovers, den jedes Crewmitglied heute Morgen ausgeteilt bekommen hat, über meinen Kopf gezogen habe, setze ich vorsichtig einen Schritt vor den anderen.

Die Melodie des Auftaktliedes verstummt langsam. Zeitgleich verdunkelt sich die Bühne. Beinahe schreie ich laut auf, als ich sehe, dass Shawn an den Rand der Bühne tritt und sein Plektrum in die Menschenmenge wirft. Genau wegen dieser Geste, hätte ich vor Beginn des Konzertes einige Plektren in die Halterung seines Mikrofons klemmen müssen. Da ich es jedoch vergessen habe, wird der Weltstar gleich ohne eins dastehen.   

Damit dieser Fall nicht eintritt, betrete ich mit gesenktem Kopf die Bühne. "Vielleicht falle ich in der Dunkelheit überhaupt nicht auf", versuche ich mir im Stillen gut zuzureden. Der Weg zu seinem Mikrofon kommt mir elendig lang vor. Doch als ich es endlich erreicht habe, stecke ich die Plektren mit zitternden Fingern eilig in die Halterung.

Während ich mich zum Gehen wende, hebe ich meinen Kopf ein kleines Stück in die Höhe. Sofort halte ich in meiner Bewegung inne. Keine dreißig Zentimeter von mir entfernt steht Shawn und mustert mich. Es fühlt sich an, als würde mein Herz jeden Moment aus meiner Brust herausspringen. Seine Lippen mit seiner Zunge befeuchtend runzelt der Braunhaarige seine Stirn. In einer gewissen Weise scheint es so, als würde er in mir eine Person, die er bereits einmal getroffen hat, wiedererkennen.   

"Es tut mir leid", flüstere ich, bevor ich ihm ein Plektrum, das übrig geblieben ist, in die Hand drücke. Dabei berühren meine Fingerspitzen seine warme Haut für wenige Sekunden. Ein wirklich atemberaubendes Gefühl zieht durch meine Nervenzellen. Solange, bis in meinem Gehirn der Impuls, zu flüchten, ausgelöst wird. "Schon okay", nehme ich Shawns Stimme gerade noch so wahr.  

Genau in dem Moment, in dem ich die Bühne verlasse, gehen die Scheinwerfer wieder an. Als hätten die Techniker nur darauf gewartet, dass die komische Kapuzengestalt endlich verschwindet. Meine Arme über meinem Kopf zusammenschlagend verkrieche ich mich in eine dunkle Ecke, in der mich hoffentlich keiner in der kommenden Stunde suchen wird.

"Hey!", ruft jemand durch den Gang, der mich ein wenig an eine Irrenanstalt erinnert. Lediglich um zu gucken, wer der Glückliche ist, der von dem Weltstar angesprochen wird, drehe ich mich um hundertachtzig Grad. Während Shawn seine nassen Haare, die in Strähnen an seiner Stirn kleben, zurückstreicht, eilt er in großen Schritten direkt auf mich zu. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich mich noch einmal um. Doch wir Zwei sind die Einzigen, die sich in diesem Gang befinden.

"Danke", bleibt der Sänger schließlich vor mir stehen. "Wofür?", stammle ich. Dabei besitzt dieses Wort gerade mal zwei Silben. "Na, du hast mich davor gerettet, dass ich ohne meine Plektren dastehen", schiebt Shawn seine Hände in die Hosentaschen. "Oh, ja", ist alles, was ich dazu sage. Dann tritt eine merkwürdige Stille ein.

"Ich meine, das hättest du echt nicht tun müssen", lächelt mich der Braunhaarige schief an. "Naja, um ehrlich zu sein, ist genau das meine Aufgabe", kratze ich mich irritiert an meinem Kopf. "Andrew will, dass du während meines Auftritts auf die Bühne gerannt kommst?", zieht Shawn amüsiert seine Augenbraue in die Höhe. Augenblicklich erhitzen sich meine Wangen.

"Nein, tut mir leid", entschuldige ich mich bei ihm heute schon zum zweiten Mal, "ich hatte so viel um die Ohren, dass ich vergessen habe, die Halterung deines Mikrofons mit den Plektren aufzufüllen." Unbehaglich wippe ich auf meinen Zehenspitzen auf und ab. Zögerlich nickt der Sänger, bevor er seine Hand auf meine Schulter legt.

"Das macht mich verrückt", drückt mich Shawn sanft zurück auf meine Fußballen. "Entschuldigung", lasse ich leise verlauten. Dabei will ich mich eigentlich überhaupt nicht für meinen Tick, der immer dann auftritt, wenn ich unsicher werde, entschuldigen. Während der Braunhaarige erneut nickt, wischt er sich fahrig über seine Augen.

"Jedenfalls werde ich meinem Manager sagen, dass er jemand Anderen für diese Aufgabe finden soll", steigt Shawn wieder in das vorherige Gespräch ein. "Bitte nicht", flehe ich schon beinahe, "ich weiß, ich habe keinen guten Eindruck hinterlassen, weil ich meine Aufgabe direkt am ersten Arbeitstag vermasselt habe. Doch ich bekomme das hin. Das verspreche ich."

"Aber", setzt der Weltstar an, während er seine Stirn runzelt. "Kein aber", fahre ich ihm sofort dazwischen, "ich möchte nicht, dass jemand Anderes meine Aufgabe übertragen bekommt." Mit einem möglichst unschuldigen Blick sehe ich zu ihm hinauf. "Du bist merkwürdig", platzt es plötzlich aus Shawn heraus.

"Danke", lächle ich ihn übertrieben breit an. Währenddessen zerplatzt der kleine Traum, dass er mich gut finden könnte, wie eine Seifenblase in meinem Kopf. Da unsere Unterhaltung damit scheinbar beendet ist, ziehe ich mir die Kapuze über meinen Kopf und setze mich in Bewegung.

"Ach, übrigens", hält mich Shawn vom Gehen ab, als er seine Stimme noch einmal erhebt. "Mit Namen weiß ich dir nicht zu sagen, wer ich bin. Mein eigener Name, teure Heilige, wird, weil er dein Feind ist, von mir selbst gehasst. Hätte ich ihn schriftlich, so zerriss' ich ihn", zwinkert mir der Junge zu, während er seine Hand zu einem Peace-Zeichen formt. Ohne eine Erklärung abzugeben, verschwindet er hinter der nächsten Ecke.

Ich merke, wie mein linkes Auge anfängt zu zucken. Kopfschüttelnd hole ich mein Handy aus meiner hinteren Hosentasche. Die Wortfetzen, die in meinem Gehirn hängen geblieben sind, gebe ich in die Suchleiste bei Google ein. "Romeo und Julia. Zweiter Akt. Zweiter Aufzug", murmle ich verwirrt vor mich her. "Warum zitiert er Shakespeare?"

Heartbeats - Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt