Ewigkeit

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Kapitel 17
Heartbeats
[Florence Tremblay]

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Nachdem ein lautes Gähnen meinem Mund entflohen ist, wird mir plötzlich wieder bewusst, neben wem ich eigentlich sitze. "Es ist schon spät", stottere ich leicht, als mein Blick auf meine Armbanduhr fällt. Auch wenn ich es selbst kaum glauben kann, habe ich tatsächlich über eine Stunde mit Shawn an seinem neuen Lied gearbeitet. Beinahe jeden Vorschlag, den ich ihm gemacht habe, hat der Sänger angenommen und in eine wundervolle Melodie umgesetzt.

Entweder hat er dies aus Nettigkeit getan, um mir nicht vor den Kopf zu stoßen. Oder die zahlreichen Nächte, in denen ich vor meinem Computer saß und an Remixen gearbeitet habe, zahlen sich aus. Während ich meinen Nacken knacken lasse, versuche ich meine Beine möglichst normal zu bewegen. Da mein linker Oberschenkel scheinbar eingeschlafen ist, fühlt er sich ein wenig taub an.

Womöglich war es nicht die beste Idee, dass wir uns den schwarzen Hocker zu zweit teilen. "Ich werde dann mal meine Jacke holen", murmle ich. Nur damit es nicht plötzlich so unerträglich still ist. Denn Shawn hat aufgehört, auf dem Flügel zu spielen. Stattdessen mustert er mich von der Seite; was mich wirklich unwohl fühlen lässt. Schnell erhebe ich mich von der Sitzgelegenheit. "Aufgepasst", lacht der Braunhaarige leise, während sich seine langen Finger um meine Hüfte schließen.

Um ein Haar wäre ich über das Bein des Hockers gestolpert. "Danke", atme ich schwer aus. Der Schock, mich beinahe vollkommen blamiert zu haben, sitzt tief in meinen Knochen. Dazu kommt, dass Shawn keinerlei Anstalten macht, seine Hände zurückzuziehen. Unregelmäßig sauge ich die Luft, die plötzlich zu mangeln scheint, in mich auf. Währenddessen blickt mir der Junge geradewegs in meine Augen.

Seine Pupillen sind so dunkel, dass man glauben könnte, er hätte eine dämonische Seite. Damit ich nicht über meinen Gedanken laut lache, beiße ich mir auf meine Unterlippe. Gespannt verfolge ich seine Zungenspitze, als Shawn seine Lippen befeuchtet. Automatisch tue ich es ihm gleich, bevor ich erneut meine Zähne in meine Unterlippe bohre. Einen Moment verharren wir in dieser Position. Einen Moment, der sich wie ein halbe Ewigkeit anfühlt.

Erschrocken zucke ich zusammen, als mir bewusst wird, was wir hier gerade tun. Irritiert schüttelt der Braunhaarige seinen Kopf, nachdem er seine Hände auf die weißen Tasten sinken lassen hat. Dann ergreife ich die Flucht. Mit schnellen Schritten mache ich mich auf den Weg hinter die Bühne. Unruhig lasse ich meinen Blick über die vielen Gegenstände, die sich dort angesammelt haben, schweifen.

"Da bist du", rufe ich erfreut aus, während ich auf meine Jacke zusteure. Dabei lasse ich die Tatsache, dass ich das Kleidungsstück personalisiere, vorerst außer Acht. Als ich nach dem Jeansstoff greife, fällt ein flacher Gegenstand auf den Boden. In diesem Augenblick erinnere ich mich daran, dass ich noch überhaupt keine Zeit hatte, Shakespeares Werk in meinem Koffer zu verstauen.

Lächelnd bücke ich mich nach dem braunen Buch. "Soll ich dich mitnehmen?", ertönt eine tiefe Stimme hinter mir. Mit klopfenden Herz drehe ich mich zu Shawn um. "Erschreck mich doch nicht so", beschwere ich mich, während ich an meine Brust fasse. "Tut mir leid", entschuldigt sich der Junge bei mir. Obwohl er sich bemüht, ernst dreinzublicken, sehe ich genau, dass sich der Sänger mit aller Kraft ein Lachen verkneift.

"Die Entschuldigung kannst du dir sonst wohin stecken, wenn du meinst, es lustig finden zu müssen, dass ich gerade beinahe an einem Herzinfarkt gestorben bin", schreite ich mit erhobenen Zeigefinger an Shawn vorbei. Schmunzelnd schlängle ich mich zwischen den elektronischen Geräten hindurch und versuche, nicht in den zahlreichen Kabeln hängen zu bleiben. "Aber es tut mir wirklich leid", ruft mir der Junge hinterher, bevor er sich ebenfalls in Bewegung setzt.

Rückwärtsgehend komme ich dem Ausgang der Konzerthalle immer näher, während ich Shawn dabei beobachte, wie er mich langsam einholt. Seinen Kopf schief gelegt vergräbt er seine Hände in den Hosentaschen, als wir gleichzeitig an den riesigen Flügeltüren zum Stehen kommen. "Dir sei verziehen", lache ich, da der Braunhaarige scheinbar darauf wartet, dass ich seine Entschuldigung annehmen.

"Denn wie sagte der werte Herr?", krame ich grinsend in meinem Gedächtnis nach einem Zitat, "die Art der Gnade weiß von keinem Zwang. Sie träufelt wie des Himmels milder Regen zur Erde unter ihm, zwiefach gesegnet." Als könnte es mir versichern, dass ich die Sätze von Shakespeare richtig widergegeben habe, drehe ich das kleine Buch in meinen Händen umher. "Wie funktioniert das?", macht Shawn einen großen Schritt auf mich zu, während er mich mit zusammengezogenen Augenbrauen mustert.

"Wie funktioniert was?", flüstere ich, da mir der Junge plötzlich so nah ist. So nah, dass ich seinen Atem auf meiner Nasenspitze spüre. "Wie kannst du dir so unheimlich viel merken?", bewegt er sich noch ein Stück vorwärts. Automatisch taumle ich rückwärts. Doch eine unsichtbare Kraft hindert mich daran, einen größeren Abstand zwischen uns zu bringen. "Ich...", setze ich an, bevor meine Stimme versagt.

Da ich keine sinnvolle Antwort auf seine Frage finde, sehe ich Shawn einfach nur an. "Es wäre zu schön, zu wissen, was du denkst", streicht mir der Sänger durch meine Haare. An meinem Hinterkopf lässt er dann seine Fingerspitzen verweilen. Ein leichtes Kribbeln breitet sich an den Stellen, an denen er mich bereits berührt hat, aus. "Das wäre zu einfach", schlucke ich stark, um meine Kehle vor dem Austrocknen zu bewahren.

"Wahrscheinlich würde es den ganzen Reiz nehmen", haucht Shawn, bevor er seinen Kopf nach vorne beugt. Während ich versuche, herauszufinden welchen Reiz er meint, richte ich meinen Körper zu seiner vollen Größe auf. Somit schweben meine Lippen automatisch vor seinen. "Glaubst du an Schicksal?", flüstert der Braunhaarige, als er unentwegt auf meinen Mund starrt. Sein Blick ist erfüllt von Begierde. Ein Verlangen, das auch durch meine Adern pumpt.

Dabei kenne ich den Sänger überhaupt nicht. Aber er versteht, wie man Spannung aufbaut. Bevor Shawn endgültig seine Lippen auf meine legen kann, schallt ein Geräusch, wie ein Schlag, zu uns hinauf. Zusammenzuckend sehe ich in die Richtung meiner Füße. Da meine Finger viel zu sehr zittern, habe ich die Tragödie, die von Romeo und Julia handelt, einfach fallen lassen.

Zum wiederholten Mal beuge ich mich nach unten, um das Buch aufzuheben. Als ich wieder aufrecht stehe, bemerke ich, dass Shawn plötzlich verschwunden ist. Bitter lache ich auf. "Arsch", wende ich mich kopfschüttelnd zum Gehen. "Soll ich dich jetzt mitnehmen oder nicht?", hält der braunhaarige Sänger eine von den vielen schweren Türen offen, als ich gerade eine andere aufstoßen will.

"Ich fahre bei dir mit", schreite ich, ohne ihm einen Blick zu würdigen, an  Shawn vorbei. Kein 'wenn es dir nichts ausmacht'. Kein 'bitte' oder 'danke'. Denn ich bin der Meinung, dass er mir diese Mitfahrgelegenheit nach der heutigen Aktion auf jeden Fall schuldet. Wahrscheinlich erlaubt er sich ständig solche Ausschreitungen. Und ich bin ein weiteres Mädchen, das beinahe auf ihn hereingefallen wäre. Auf sein Image des unschuldigen Jungen.

Heartbeats - Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt