Ankunft in Queens

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Während der gesamten Zugfahrt über starre ich aus dem Fenster und versuche, mir vorzustellen, was wohl passieren wird, wenn die Wahrheit an die Öffentlichkeit kommt. Wenn jeder weiß, dass Roxane Blue von ihrer wohlhabenden Familie von heute auf morgen einfach so davongelaufen ist. Würden meine Eltern mich vermissen? Würden sie alles dafür tun, um mich zu finden? Oder würden sie in Interviews Lügen verbreiten, so wie immer? Was werden Zayn und Jane tun? Werden sie sich freuen oder sich Sorgen machen?
All diese Fragen und noch vieles mehr schwirren mir durch den Kopf, als der Zug in den Bahnhof von Queens einfährt und zu einem sachten Halt kommt. Müdigkeit macht sich in mir bemerkbar und ich stehe etwas zu schnell auf. Kurz wird mir schwarz vor den Augen und ich blinzle ein paar mal hintereinander, um wieder eine klare Sicht zu bekommen. Der fehlende Schlaf von der letzten Nacht hat doch einige Spuren an mir hinterlassen.
Etwas ungeschickt steige ich aus dem Zug und stelle erleichtert fest, dass hier nicht so viel los ist wie auf dem Gleis in Manhattan. Dennoch brauche ich einen Moment, um mich zurechtzufinden. Ich bin noch nie alleine irgendwo hingereist.
Aus dem Augenwinkel heraus entdecke ich eine brünette, schlanke Frau, die mir mit einem netten Lächeln zuwinkt und ich erkenne sie als die Untervermieterin wieder, mit der ich vor einigen Stunden bereits telefoniert habe. Während der Zugfahrt habe ich ihr meinen Personalausweis geschickt, weshalb sie weiß, wie ich aussehe. Bei dem Anblick von ihr muss ich ebenfalls lächeln, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich vom Bahnhof abholt.
„Hey, Joyce." , begrüßt mich die Frau und hält mir munter ihre Hand entgegen, „Ich bin May Parker." „Hallo, Miss Parker." , erwidere ich und schüttle ihre Hand leicht, „Danke, dass Sie mich abholen." Die Brünette strahlt mich regelrecht an: „Nenn mich doch bitte May. Und das mit dem Abholen ist absolut kein Problem. Ich war gerade in der Nähe. Außerdem kann ich doch so ein junges Mädchen wie dich nicht alleine durch Queens geistern lassen."
May ist mir auf der Stelle sympathisch und ich folge ihr zu ihrem Auto, das etwas abseits vom Bahnhof geparkt ist. Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung fragt sie mich zum Glück nicht allzu viele Fragen, die mich in eine brenzliche Situation bringen würden. Es sind eher charakterbezogene Fragen, die ich ihr offen und ehrlich beantworte und ich merke schnell, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme, da ich sie (was meine Identität angeht) anlügen muss. Sie erzählt mir sogar, dass ihr Mann vor einiger Zeit verstorben ist und ihr Neffe bei ihr wohnt, dessen Eltern schon vor über zehn Jahren gestorben sind.
„Meine Eltern leben zwar noch, aber ich hatte so oft das Gefühl, dass ich nie wirklich für sie existiert habe." , gestehe ich schließlich. May hat mir einen Einblick in ihr tieferes Privatleben gegeben, also möchte ich auch wenigstens ein kleines bisschen von meinem preisgeben. „Sie sind kaum zuhause." , füge ich leiser hinzu und sinke etwas tiefer in den Beifahrersitz. „Das tut mir leid für dich." , meint May nur und ich bin froh, dass sie nicht weiter nachfragt, denn ich weiß nicht, ob ich ihr dann nicht doch die ganze Story erzählen würde.
Die Fahrt zum Loft dauert glücklicherweise nicht sehr lange und ich spüre, wie ich ein wenig leichter atmen kann, als ich die Treppen in dem schon etwas heruntergekommenen Treppenhaus mit meiner Tasche auf den Schultern besteige. Ein angenehmer Duft bestehend aus Rosen und Vanille steigt mir in die Nase und ich merke, wie sich die Anspannung von meinem Körper so allmählich löst.
„Nur um dich schon einmal vorzuwarnen: mein Neffe ist gerade da und versucht, warmes Abendessen zu kochen, also nicht wundern, wenn die Küche in Flammen steht oder es komisch riecht." , sagt May kichernd und sperrt die weiß gestrichene Türe auf. Und tatsächlich, sofort ist der süßliche Rosen-Vanille-Duft ersetzt durch einen penetranten Qualm-Geruch, der verrät, dass irgendjemand gerade sein Essen anbrennen lässt.
Wie von der Tarantel gestochen flitzt May in Richtung Küche, während sie leise ein paar Flüche ausstößt. Respekt, dass sie so flott noch unterwegs ist...
Schnell ziehe ich meine Schuhe aus, bevor ich ihr in die Wohnung folge. Es ist ein Wunder, dass keine Rauchschwaden in der Luft hängen.
Die Wohnung an sich ist zwar klein, aber hübsch eingeräumt und sehr ordentlich gehalten. Mit einem Lächeln lasse ich meinen Blick über die Bilder an der Wand und über dem Kaminsims schweifen, kann jedoch die Gesichter darauf nicht richtig erkennen.
Vorsichtig setze ich meine Tasche auf dem Boden ab und schleiche dann in die Küche, wo May mit Backhandschuhen gerade ein halb verbranntes Blech Hühnchen aus dem Herd rettet. Neben ihr steht ein Junge mit braunen Haaren und dunkelbraunen Augen, der etwa in meinem Alter sein muss. Auf seinem Gesicht hat sich bereits der Qualm abgesetzt und als ich durch die Küchentür trete, dreht er sich energisch in meine Richtung um, wobei er May das Hühnchen beinahe aus der Hand schlägt. „Pete, vorsicht!" , zischt May und stellt das Blech auf einen Untersetzer neben der Spüle.
Für einen Moment bin ich völlig fasziniert, dass er mich gehört hat, obwohl ich doch eher leise den Raum betreten habe. „Peter, das ist Joyce Kane, unsere neue Mitbewohnerin. Joyce, das ist mein Neffe Peter." , stellt May uns rasch vor, ehe sie sich wieder dem verbrannten Hühnchen widmet.
Etwas überfordert hebt Peter kurz die Hand und erst jetzt fällt mir auf, dass er anscheinend noch immer (oder schon) in seinen Schlafsachen ist. Er trägt eine karierte, lockere Stoffhose und ein weißes T-Shirt mit einem Taxi darauf und der Aufschrift I survived my trip to New York.
Zögernd winke ich zurück, ohne jedoch etwas zu sagen, und eine unangenehme Stille breitet sich in der Küche aus, bis May mir irgendwann mitteilt, dass ich schon mal mein Zimmer beziehen kann, während sie Pizza bestellt. „Peter, zeigst du Joyce bitte den Weg?" , wendet sie sich dann an ihren Neffen, der (mit benommenem Blick auf das Hühnchen) schweigend nickt und sich anschließend in Bewegung setzt. Neugierig folge ich ihm und als wir in den Gang gelangen, unterbricht er zum Glück die komische Ruhe zwischen uns: „Normalerweise lass ich Essen nicht anbrennen." Ein Kichern entfährt mir und ich festige den Griff um meine Reisetasche, damit ich sie nicht aus Versehen fallen lasse. „Kann jedem mal passieren." , bringe ich hervor und könnte mich für meinen Kicher-Anfall selbst schlagen.
Am Ende des Flurs öffnet Peter eine ebenfalls weiß gestrichene Tür und zum Vorschein kommt ein niedlich eingeräumtes Zimmer mit einem Schrank, Bett und Schreibtisch inklusive Stuhl. Ich habe sogar ein Fenster in der Wand neben meinem Bett, welches mir einen guten Blick auf die Straße unter uns ermöglicht. „Also, ich lass dich dann mal in Ruhe deine Sachen einräumen und geb dir bescheid, wenn die Pizza da ist." , meint Peter und ich werfe ihm einen dankenden Blick zu, ehe er wieder verschwunden ist. Genau wie May ist mir auch Peter jetzt schon sympathisch und ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann, hier gelandet zu sein. Bereits in dieser kurzen Zeit, in der ich jetzt hier in Queens bin, habe ich mich mehr zuhause gefühlt als in den vergangenen 17 Jahre bei meinen Eltern.
Gemächlich räume ich zuerst meine Kleider, dann meine Bücher ein und widme mich anschließend meinen Zeugnissen, die ich mitgenommen habe. Nach einigem Überlegen verstecke ich sie in einer Mappe unter der Matratze des Betts und widme mich dann dem restlichen Inhalt meiner Reisetasche. Das Bargeld teile ich auf und verstecke es an verschiedenen Stellen, die ich mir auch gut merken kann. Einige Scheine landen zwischen meinen Klamotten, andere schließen sich den Zeugnissen unter der Matratze an. Wieder andere befestige ich unter dem Schreibtisch, bis letztendlich alles sicher verstaut ist. Falls May beim Putzen oder so jemals auf einen Teil des Gelds stoßen sollte, muss ich wohl oder übel dann halt improvisieren und mir irgendwas glaubwürdiges einfallen lassen.
Gähnend strecke ich mich und schnappe mir dunkelgraue Sweatpants und ein weißes, bauchfreies T-Shirt aus dem Schrank. Wenn Peter in Gammelsachen rumrennt, kann ich das bestimmt auch, ohne dass es groß auffällt. Aus reiner Gewohnheit will ich nach meinem Handy auf meinem Bett greifen, doch ich halte in mitten der Bewegung inne. Stimmt, ich habe ja jetzt kein Handy mehr und muss mir erst irgendwo ein neues kaufen. Wenigstens habe ich die Daten meines Laptops komplett gelöscht und habe ihn mitgenommen, damit ich mich schon mal nach einem Job umsehen kann. Das Geld, das ich mitgenommen und auf mein neues Konto geschoben hab, sollte zwar ziemlich lange reichen, aber trotzdem schadet es ja nicht, noch eine sichere Einnahmequelle zu haben. Außerdem wird es wirklich mal Zeit für mich, ins Berufsleben einzusteigen.
Ein zartes Klopfen an meiner Zimmertür reißt mich aus meinen Gedanken und ich stolpere über meine Reisetasche Richtung Tür. Anscheinend muss man gehört haben, dass ich fast in hohem Bogen auf den Boden geflogen wäre, denn Peter, der das Klopfen verursacht hat, schaut mich mit teils erwartungsvoller, teils besorgter Miene an. „Alles gut bei dir?" , fragt er mit leicht schief gelegtem Kopf. „Ja, ja. Alles bestens." , versichere ich ihm schnell und rücke mit einer schnellen Handbewegung meine Brille zurecht. „Okay..." , nickt Peter langsam und deutet gen Küche, „Pizza ist da."
Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus und ich folge ihm in die Küche, wo May bereits drei Teller bereitgestellt hat und wir uns um den Tisch herum niederlassen. Zu Beginn des Abendessens ist die Stimmung etwas angespannt, doch als May Peter fragt, wie sein Schultag war und dieser sich hemmungslos über den Französisch-Test auslässt, verfallen wir alle in ein lockeres Gefühl. Obwohl ich nie wirklich ein richtiges Familiendinner hatte, habe ich es mir immer so vorgestellt, wie in diesem Moment. Nur mit anderen Menschen.
Für den Hauch einer Sekunde verspüre ich eine gewissen Sehnsucht nach etwas, das gar nicht passiert ist. Zwar will ich es nicht, aber in meinem Kopf entsteht - trotz meiner Bemühungen es zu verdrängen - ein Bild von meinen Eltern und mir an der Küchentheke, während wir auf den Barhockern sitzen, uns lachend unterhalten und Spaghetti essen.
Schlagartig vergeht mir der Restappetit und ich springe fast schon vom Tisch auf, meinen leeren Teller bereits fest umklammert. „Danke für die Pizza. Ich geb dir das Geld später, May." , sprudelt es aus mir heraus und ich renne fast schon zur Spülmaschine, wo ich den Teller klirrend verstaue, ehe ich in mein Zimmer flüchte, die Tür hinter mir schließe und mich mit Tränen in den Augen auf das Bett fallen lasse. Ich hab keine Ahnung, wo dieser Schwall von Emotionen auf einmal herkommt, aber ich kann nichts dagegen tun und so bleibe ich eine ganze Weile auf der Matratze liegen und heule in mein Kissen. Meine Gedanken wandern von meiner Mom zu meinem Dad bis hin zu Zayn. Zayn, den ich seit meinem fünften Lebensjahr kenne. Zayn, der über alle meine Ängste bescheid weiß und immer für mich da gewesen ist, egal wie traurig oder wütend oder verzweifelt ich gewesen bin. Aber das war nur einer von vielen Gründen, warum ich mich in Zayn verliebt habe. Er war nicht nur mein fester, sondern auch schon immer mein bester Freund. Wir haben alles zusammengemacht, haben die Galen unserer Eltern für uns gegenseitig erträglich gemacht und waren zusammen auf Städtetrips und Urlaubswochen. Sogar in der Schule waren wir unzertrennlich. Eigentlich hätten wir nächste Woche angefangen, unsere gemeinsamen Pläne für's College zu schmieden, aber das hat sich ja jetzt dank Janes und Zayns Treulosigkeit erledigt.
Mit einem leisen Schluchzen wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und werfe einen Blick aus dem gekippten Fenster. Die Abendsonne taucht den Himmel in ein tiefes Orange und nur noch vereinzelt fahren Autos die Straße entlang, weshalb ich mich dazu durchringe, das Fenster komplett aufzumachen. Laue Luft füllt mein neues Zimmer und ich lehne mich gegen den Fensterrahmen mit geschlossenen Augen, während ich versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass ab jetzt alles besser wird. Dass Joyce Kanes Leben besser wird als das von Roxane Blue.

In Love With A Superhero (Spider-Man ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt