Kapitel 4

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Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick durch das karge Zimmer schweifen, über den leeren Schrank, das abgezogene Bett und den Schreibtisch, dann trat ich in den Flur und zog leise die Tür hinter mir zu. Das Haus lag in friedlicher Stille, ein paar Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Gardinen der Fenster und malten goldene Streifen auf die Dielen. Es war kurz vor Mittag, die meisten Jugendlichen waren in der Schule. Nur hin und wieder hörte man in der Küche ein paar Töpfe klappern, als Zeichen für die Vorbereitungen des Mittagessens. Ich umpackte den Griff der Reisetasche, die mir gegeben wurde, fester und ging die Treppen runter.

Draußen vor der Haustür standen Sara und Lucas mit Irina und Catherine, die das Pflegeheim leitete. Sie hatten mir den Rücken zugewandt und Catherine gestikulierte wild. Wahrscheinlich besprachen sie, wie sie sich um mich zu kümmern hatten.

In den letzten zwei Wochen hatten wir drei weitere Treffen gehabt. Sara und Lucas hatten mir von ihrer Familie berichtet und mir Fotos von vergangenen Familienausflügen gezeigt, die von Glück und Zufriedenheit erzählten. Ohne dass ich etwas sagen musste, hatten sie akzeptiert, dass ich nicht über meine Familie sprechen wollte, und mir kaum Fragen gestellt. Und tatsächlich musste ich mir eingestehen, dass ich sie mochte.

Instinktiv tastete ich nach dem Saphir und atmete still auf, als die Spitze sich in meine Fingerkuppe bohrte. Mir lag nicht viel daran, hierzubleiben, aber zu gehen war dennoch ein großer Schritt. Es schien mir auf der einen Seite wie eine Rettung, ein Neuanfang mit zahlreichen Chancen. Doch da gab es dennoch etwas, das mich bedrückte. Eine Stimme in meinem Kopf, die mir leise „Verräterin" zuzuflüstern schien. Denn tatsächlich entschied ich mich gleichzeitig auch dafür, London und meine Familie hinter mir zu lassen. Nach vorn zu blicken, nicht mehr an ihnen festzuhalten. Mich einer neuen Familie zuzuwenden. Und auch wenn ich es mir nicht eingestehen würde, so versetzte mir dieser Gedanke doch einen riesigen Stich im Herzen.

Während ich mich überwand, ins Blickfeld meiner Pflegeeltern zu treten, trat Maria aus der Küche, einen roten Kochtopf in der Hand. Als sie mich erblickte, lächelte sie überrascht, bevor sie den Topf mit einem leisen Klappern auf den Tisch stellte und zu mir kam. Für einen Moment beobachteten wir beide still die Menschen, die draußen auf mich warteten. Schließlich meinte sie: „Sie sehen nett aus."

Ich schluckte, wickelte ein Stück der Silberkette um meinen Finger und löste sie wieder. „Ich denke ...", ich verstummte, dann schüttelte ich sanft den Kopf, „ich denke, das sind sie auch."

Nachdenklich strich sich Maria eine Strähne hinters Ohr. Ihre Wangen waren vom Kochen gerötet und ihr kurzes Haar zerzaust. „Worauf wartest du dann noch?"

Kurz sah ich nach oben an die Decke, dann schüttelte ich erneut den Kopf. „Ich weiß es nicht."

„Du wartest auf ein Zeichen. Darauf, dass es sich plötzlich richtig anfühlt."

Ich blickte zu ihr. Ja. Ja, das beschrieb es ziemlich gut. Ich wartete darauf, dass meine Eltern gefunden wurden. Oder dass ihre Stimmen in meinem Kopf auftauchten und sie mir sagten, dass es okay sei. Dass sie mir nicht böse wären. Doch sie waren weg. Und sie würden nicht plötzlich wieder auftauchen. Wenn sie überhaupt jemals wieder auftauchen würden.

„Weißt du, Avalee, ich glaube, sie fänden es toll. Sie fänden Sara und Lucas toll. Sie würden wollen, dass du glücklich bist. Und das warst du hier", sie deutete ausschweifend auf unsere Umgebung, „ganz klar nicht."

Ich schluckte. Und dann tat ich etwas, was ich seit Wochen nicht mehr gemacht hatte – ich trat einen Schritt auf sie zu und umarmte sie, vergrub mein Gesicht in ihrem rauen Pulli. Sie roch nach Waschmittel und gebratenen Zwiebeln, und auf irgendeine Weise tröstete mich der Geruch.

The Shadow of a FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt