Kapitel 2

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„Es ist sechs Uhr fünfzehn, alle bitte aufstehen. Es ist sechs Uhr fünfzehn, alle bitte aufstehen“, verkündete eine hohe piepsige Stimme aus den Lausprechern. Die Jugendlichen, die von dieser Ansage geweckt werden sollten, stöhnten Großteiles auf und vergruben ihre Köpfe noch tiefer in ihre Kissen. Bettdecken wurden höher gezogen und aus den einen und den anderen Betten waren dumpfe Flüche zu hören. Der Gedanke an einen weiteren monotonen Schultag war nicht sonderlich begeisternd, die meisten der Schüler wünschten sich einfach nur noch ein paar Minuten Schlaf, um das unvermeidliche noch etwas weiter hinauszuzögern. Sie würden zusehen müssen wie einige wenige, nicht einmal drei Prozent der Jungen und Mädchen zu Mittag in einen Bus steigen würden. Und jeder der nicht dazu gehören würde, jeder der diese Chance verpassen würde, hatte keinen besonderen Antrieb aus den Betten zu kommen. Und all jene, die tatsächlich zu einem Besuch im berühmten Pollentia-Palast eingeladen worden waren versuchten noch ein wenig Schlaf zu bekommen und fit für diesen wichtigen Ausflug zu sein. Denn dort würden sie den Präsidenten und seine Familie treffen, sie würden die Möglichkeit haben ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und vielleicht sogar an einen besseren Ort zu kommen.

In einen der unzähligen Schlafsaalen stöhnte ein Mädchen auf, nicht weil sie deprimiert darüber war diese Chance nicht zu bekommen, denn sie durfte mitfahren, sondern weil es ihr nicht besonders gut ging. Die Stimme aus den Lautsprechern bohrte sich wie spitze Nadeln in ihren Kopf und hinterließ ein hohes Sirren in ihren Ohren. Alles tat ihr weh, ihre Augen brannten, ihre Gelenke schmerzten und ihr Bauch gab ungesunde Geräusche von sich. Das Mädchen fühlte sich wie gegessen und wieder ausgespuckt. Die grauen Augenringe waren in ihrem kalkweißen Gesicht umso besser zu sehen, ihre Haare hingen ihr in Strähnen glanzlos ins Gesicht. Leah sah heute wirklich nicht besonders gut aus. Ihre Krankheit selbst zu diagnostizieren fiel ihr dabei nicht besonders schwer. Grippe. Ausgerechnet an diesen besonderen Tag, an dem sie stark sein musste um ihn heil zu überstehen, hatte es sie erwischt. Trotzdem überwand sie sich aufzustehen und zum Bett ihrer besten Freundin zu torkeln.

„Aufstehen Rebekah, du weißt doch, was heute für ein Tag ist. Den willst du doch nicht verpassen“, meinte Leah krächzend und hatte Mühe ihren plötzlichen Schwindelanfall zu ignorieren. Rebekah öffnete ein Auge einen Spalt weit, gerade genug um Leah verschlafen anzusehen. „Nur noch eine Minute, du kannst schon einmal in den Waschsaal gehen, ich komme dann auch gleich nach“, murmelte sie und drehten Leah den Rücken zu.

Langsam schlürfte Leah aus der Tür, gemeinsam mit ein paar anderen Mädchen die sich schließlich doch überwinden konnten und aufgestanden waren. Eine kalte Dusche, so hoffte sie, würde den Schmerz schon wegwaschen.

Wann Rebekah es fertig gebracht hatte aufzustehen wusste Leah nicht. Sie sah erst beim Frühstück vor einer Schale Müsli sitzen. „Wo warst du denn so lange? Ich dachte schon ich hätte dich verpasst und du wärst schon längst fertig mit deinem Frühstück“, sagte Rebekah.

„Ich war nur noch kurz in der Krankenstation und habe mir etwas gegen meine Grippe geholt. War wohl keine gute Idee gestern noch draußen im Regen zu trainieren“, erwiderte Leah und setzte sich zwischen Rebekah und Jonas auf den Platz, auf dem sie immer saß.

„Aber jetzt geht es dir doch wieder besser?“, fragte Jonas besorgt. Heute saßen sie nur zu dritt am Tisch, die anderen hatten sich woanders hingesetzt. Sie waren alle ein bisschen neidisch auf die drei, die alle ausgewählt worden waren heute zum Präsidenten zu fahren. Leah und Rebekah, die schon seit dem Kindergarten befreundet waren, und Jonas. Mit ihm waren sie auch schon seit einer Ewigkeit befreundet.

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„Ihr wisst, was ihr zu tun habt? Ich hoffe, alle halten sich an die Spielregeln, ich will keine Ausrutscher sehen, das hier ist extrem wichtig“, ermahnte sie noch einmal einer der Aufseher, und sah alle mit strenger Miene, und jeder wusste, dass darin eine unausgesprochene Warnung lag. Ein Fehler würde wahrscheinlich schon genügen, um ihre Karriere hinschmeißen zu können. Den Vormittag hatten sie überstanden, jetzt saßen sie endlich im Bus, auf dem Weg zu ihrer möglichen Zukunft. Mit zwölf Jahren waren sie alle getestet worden und aufgrund verschiedenster Faktoren als fähig zu einer Karierre als Krieger eingestuft worden. Daraufhin hatte man sie auf diese Schule geschickt, um dort  ausgebildet zu werden. Ihre Familie hatten sie daraufhin nie wieder gesehen, ihre Mitschüler waren ihre neue Familie geworden.

„Der soll nicht so einen Stress machen“, raunte eine Stimme hinter Leah und sie bemerkte, dass dort Jonas saß.

 „Trau dich doch, es ihm persönlich zu sagen“, neckte Leah ihn und sah ihn auffordernd an.

Natürlich kam Jonas der Aufforderung, den Aufseher zu provozieren, nicht nach, es würde eine harte Strafe geben für Widerworte. Stattdessen gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand dann ohne ein weiteres Wort weiter hinter in den Bus und setzte sich neben einen Jungen den Leah kaum kannte.

Erstaunt hob Rebekah neben ihr die Augenbrauen. "Was war das eben denn? Ich meine, er ist schon süß und sieht auch nicht schlecht aus, aber ich hätte ja nicht ahnen können, dass du ...".

"Sei still", unterbrach Leah sie aufgebracht, "es war nichts, wir haben nur geredet, das war alles. Wir sind Freunde, mehr nicht, dass weißt du doch". Nervös schaute sie sich um, sie wollte nicht, dass irgendjemand sie belauschte. In dieser Schule breiteten sich Gerüchte verdammt schnell aus. Sie waren eine Ablenkung, die von allen, selbst den Aufsehern nur zu willkommen aufgenommen wurden.

"Schon gut, tut mir leid. Ich sage nur, dass es sich für mich so ausgesehen hat. Deshalb musst du doch nicht gleich so ausflippen".

Leah bekam keine Gelegenheit zu antworten, in diesen Moment hielt der Zug auch schon, und alle standen von ihren Plätzen auf. Selbstverständlich in ordentlicher Zweierreihe. Ordnung war nach Gehorsam, das erste, das man können musste, um ein guter Krieger zu werden. Die meisten der Schüler waren sehr aufgeregt, sie konnten kaum ruhig stehen, die Aufseher mussten immer wieder Warnungen flüstern. Auf dem Gelände des Pollentia-Palastes dufte man nicht so ohne weiteres laut sein. Es war eine Ehre, dem Präsidentenpaar vorgestellt zu werden, und nur die Besten wurden dieser Ehre zuteil.

"Jetzt ist aber Ruhe. Wer sich ab jetzt noch einen Ausrutscher erlaubt, darf sofort wieder heimfahren", erklärte ein Mann, einer der Aufseher, bevor sie durch die riesige Flügeltüre treten konnten.

Von außen hatten sie alle den Palast nur zu oft bewundert, aber innen sah er einfach noch viel traumhafter aus. Alles war in dunkelblau gehalten. Hier und da standen wunderschöne Statuen, so perfekt ausgearbeitet waren, dass sie zu leben schienen. Als würden sie nur einen Moment innehalten, und gleich zu ihnen hinübersehen. Die Neuankömmlinge mit einen Lächeln oder einen Winken begrüßen. Das einzige, an dem man erkennen konnte, dass sie das nicht tun würden, weil sie eben nur aus Stein waren, war die Farbe. Marmorn-weiße Menschen gab es nicht. In der Mitte des Raums führte eine breite gläserne Treppe in den ersten Stock. Es musste unheimlich sein, darauf zu gehen, man musste sich fühlen als würde man schweben. Sie hatten zwar bis jetzt erst den Vorraum bewundern dürfen, trotzdem kamen sie alle aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alles wirkte so perfekt als könnte der Raum gar nicht anderes sein. Als würde nur eine winzige Veränderung bereits die Harmonie zerstören.

Aus einer der Türen auf der Seite des Raumes trat jetzt ein ältlicher Mann. Er kam steif auf die Gruppe zu und unterhielt sich mit einen der Aufseher. Anschließend wies er sie an, ihm zu folgen, nur leider nicht die Treppe hinauf, Leah hätte nur zu gerne ausprobiert, wie es sich anfühlte, auf den Stufen zu stehen. Stattdessen wurden sie durch die Tür geführt, durch die er gerade gekommen war. Sie mussten durch einen langen, beinahe schmucklosen Gang gehen, ehe sie durch eine weitere Tür in einen noch atemraubenderen Saal kamen, wenn das überhaupt möglich war. Der Präsident, der diesen Palast gebaut hatte, musste ein Vermögen dafür ausgegeben haben. Sie waren in einen Esszimmer gelandet, an dessen Tischende der Präsident persönlich saß. Links und rechts von ihm, saßen seine Frau und seine drei Kinder.

Ihn selbst hatte Leah schon oft im Fernsehen gesehen, einmal war er sogar schon in ihre Schule gekommen, auch seine Frau war ein paar Mal im Fernsehen aufgetreten, nur über ihre Kinder hatte man nie etwas gehört. Ein Junge, er musste ungefähr neunzehn sein, und zwei jüngere Mädchen, wahrscheinlich sechzehn und elf. Leah war ziemlich gut darin, das Alter von anderen zu schätzen, deshalb vermutete sie, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig liegen würde.

"Bitte setzt euch doch alle. Das Essen wird gleich serviert", sagte der Präsident und lächelte ihnen zu.

LeahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt