Kapitel 1 - Es war einmal ...

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Kapitel 1

Es war einmal ...


~Mile~
27. Juli 2019 - Berlin, Deutschland, Modo

Es war ein heisser Sommertag, die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und auf dem Zaun vor dem Pastorenhaus sass eine kleine, braune Eule. Weder die Hitze noch das grelle Licht schienen den nachtaktiven Vogel zu stören. Regungslos kauerte er da und beobachtete das Gebäude. Erst als das Knipsen einer Handykamera ertönte, drehte er den Kopf und flatterte eilig davon, als sein Blick den eines rothaarigen, jungen Mannes kreuzte.
Mile Beltran, sein Board unterm Arm, eine Sonnenbrille auf der sommersprossigen Nase, das flammende Haar in alle Himmelsrichtungen abstehend und eine grosse Schramme am rechten Knie, liess das Smartphone zurück in seine Hosentasche gleiten. Er war eigentlich keiner von denen, die jeden umgefallenen Reisssack fotografieren mussten, um jeweilige Social Media-Plattformen damit zu bepflastern, aber es gab da jemanden, der sich über das Foto freuen könnte ...
Er stiess das Zauntor auf, schlenderte den Weg zum Pastorenhaus entlang, sprang die Treppe hoch und klingelte. Alec Fraser, Pastor, Weisser-Kollar-Träger und Pflegevater der Geschwister Beltran sowie drei weiterer Waisen öffnete und bevor er Mile einen seiner berühmten tadelnden Blicke zuwerfen konnte, schob sich dieser eilig an ihm vorbei. »Sorry Pater, Schlüssel vergessen!«
Der Pastor, der jedoch zu seinem Widerwillen von allen Kindern nur Pater genannt wurde, grunzte etwas Unverständliches und schloss hinter ihm die Tür. Jemand anderes hätte sich über eine Gradierung dieses Haufen Halbwüchsiger vielleicht gefreut oder stünde ihr höchstens mit Gleichgültigkeit gegenüber, Alec Fraser hatte jedoch eine Weile gebraucht, um sich mit seinem Spitznamen zu arrangieren. Der gebürtige Brite war ein penibler Bürokrat, zwanghafter Perfektionist, nervtötender Kontrollfreak und absoluter Held seiner fünf Mündel, die er unter dem Dach des Pastorenhauses beherbergte. Ohne ihn wären sie vermutlich alle irgendwo im Pflegekindersystem unter- und eingegangen. - Sie verdankten ihm also viel.
»Da sass grad eine Eule auf dem Zaun«, erzählte Mile, während er sich die Chucks abstreifte und in Richtung Schuhablage warf. »Hab ein Foto gemacht. Willst du es sehen?«
»Ich glaube viel eher, der Vogel hockt in deinem Kopf. Zeig mal dein Bein! - Ach herrje, hatte ich nicht gesagt, du fährst nicht mehr ohne Schoner?«
»Hab ich vergessen ...«
Der Pater sah ihn streng an. »Du hast sie wieder nicht genommen, oder?«
Mile seufzte. »Hab ich auch vergessen. Und selbst wenn; es sind Ferien. Da muss ich mich nicht grossartig konzentrieren.«
»Offensichtlich schon! Vielleicht würdest du dann nicht wieder aussehen wie Fallobst!«, brummte Alec und deutete mit dem bärtigen Kinn in Richtung blutiges Knie.
Sein Schützling bliess entnervt die Backen auf. Immer die gleiche Diskussion. - ›Scheiss Ritalin.‹
Als hätte der Pastor seine Gedanken gelesen, fuhr er fort: »Sei froh, dass es nur das ist!«
Mile wusste, worauf Alec hinauswollte, liess die Luft geräuschvoll aus seinen Wangen entweichen und verdrehte die Augen. »Sabrina hat es aber auch nötiger.« Als sein Gegenüber irritiert die Brauen hob, ergänzte er besänftigend: »Na ja, ich meine ... als ich.« Gereizt vergrub Mile die Fäuste in den Hosentaschen. »Du kennst meine Meinung dazu! Ich brauche die Tabletten nicht! Ich hab das Zeug lang genug genommen! Es sollte meine Entscheidung sein!«
Der Pater seufzte wie jedes Mal, wenn er dieses Argument anbrachte. »Du wirst sie irgendwann absetzen können, aber nicht jetzt. Vertrau mir! Nächstes Schuljahr geht es ums Abi, da kannst du kein Risiko eingehen!«
Mile hatte keine Lust mehr zu streiten, also gab er keine Widerworte und zuckte geschlagen die Schultern. Er wusste ja, dass der Pater nicht unrecht hatte und was vernünftig wäre. Es erschien ihm trotzdem nicht richtig.
»Mach dich nützlich und geh die Post holen.« Alec warf ihm mit typisch schlichtem Siegerlächeln seinen Schlüssel mit dem Bärenanhänger zu, den Mile vor seinem Ausflug zum Skatepark auf der Kommode liegen lassen hatte. »Und dann komm in die Küche, ich habe Kuchen gebacken. Ach und«, augenblicklich holte ihn seine besorgte Ernsthaftigkeit wieder ein, »bring Sabrina auch ein Stück; sie ist heute nicht zum Lunch gekommen. Vielleicht lässt sie sich ja wenigstens zu etwas Schokoladenkuchen überreden. Und frag sie, ob sie ihre Medikamente genommen hat!«
»Du und deine Medikamente ...«
Mile verliess in Socken das Haus. Er staunte, als er die Eule erneut auf dem Zaun sitzend vorfand, schenkte ihr des Weiteren jedoch keine Aufmerksamkeit mehr.
Der Briefkasten quoll über vor Post. Werbung, Werbung, Werbung und haufenweise Postkarten von Freunden der Kinder, die über die Sommerferien überall in der Welt herumreisten. Auch Mile wäre gern gereist, in azurblauen Meeren geschwommen, auf Berge gestiegen, hätte mit Begeisterung Städte besichtigt und mehr als alles andere die Nordlichter bewundert. Nur war das Geld in ihrer sechsköpfigen Familie knapp und somit mussten ihm Postkarten als Medizin gegen sein Fernweh genügen.
Seufzend schleppte Mile den Papierstapel zurück ins Haus, wo er ihn auf dem Küchentisch verteilte. Der Pater, der dabei war, den Kuchen zu schneiden, summte vor sich hin, während sein Mündel aufzählte: »Werbung, Postkarte, Postkarte, Rechnung, Werbung, Postkarte und-«
»Ja?«, machte Alec, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Sorgfältig legte er das Kuchenbesteck auf ein Tablett, das er wohl für die Geschwister Beltran vorgesehen hatte.
»Ein Brief«, murmelte Mile, den schweren Umschlag neugierig musternd. »An Sabrina, mich ... und dich adressiert?«
»Ein Brief? Kennst du nicht? Verständlich. Alte Leute wie ich haben damit noch schriftlich kommuniziert. Funktioniert ohne Touchscreen«, spottete der Pater, der jeden anderen zurechtwies, der es wagte, Mitte 40 als alt zu bezeichnen.
»Ha-ah.« Mile schüttelte den Kopf. »Der Brief sieht voll komisch aus. Schau dir das Ding doch mal an!«
Alec drehte sich um ... und liess vor Schreck den Kuchenheber fallen. »J-jetzt schon?«
»Wie ›Jetzt schon‹? Hast du den erwartet?«
Das Porzellan klapperte, als der Pater ihm das Tablett in die Hand drückte, so sehr zitterte er. »Mach ihn auf ... allein ...«
»Okay, aber-«
»M-mit deiner Schwester!«, schnitt Alec ihm stammelnd das Wort ab und stürmte so fahrig wie fluchtartig aus der Küche.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt