Kapitel 35 - Als niemand schlief

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Kapitel 35

Als niemand schlief


~Mile~
3. Junaid 80'024 ☼IV – Ezelwald, Twos

Das weisse Meer leckte an den Baumstämmen, badete im Mondlicht und verschluckte den Laubboden, deckte ihn zu, versteckte ihn. Dass er überhaupt noch da war, liess sich nur durch das Rascheln der Blätter und Knacken der Zweige erraten, das jeden seiner Schritte begleitete.
Es waren die einzigen Geräusche, die diese Nacht füllte. Jedenfalls hoffte er, das alleinige Publikum seines Atems zu sein. Sein Herz schlug so laut, er befürchtete, es wäre durch den ganzen Wald bis in die Wiege der Welt zu hören.
Die Silhouetten der Bäume zogen an ihnen vorbei. Das Licht der Mode malte weisse Schattenspiele auf ihre Gesichter. Vor ihm färbte sich der Nebel dunkel.
Die Jolly Roger wirkte wie ein Geisterschiff. Gross und schwarz lag es im Nebelmeer. Weder auf dem Deck noch aus den offenstehenden Stückpforten, aus denen die Mündungen der Kanonen ragten, brannte Licht.
Red trat vor, steckte sich zwei Finger in den Mund und stiess einen Pfiff aus.
Eine Strickleiter fiel die Bordwand herab. Rosanna bekam das schaukelnde Gerät an einer Sprosse zu fassen und machte sich sogleich an den Aufstieg. Der Rest der Xilsar stellte sich rund um das Schiff auf, um es gegen mögliche Angreifer zu verteidigen. Es war nur eine Vorsichtsmassnahme, denn ein Angriff wäre unwahrscheinlich. Die Rebellen hatten sich bedeckt gehalten. So lange mit Frederick und Ann-Susann die letzten Spione unter ihnen gefallen waren, sollte niemand wissen, dass sie hier waren.
Schliesslich kam auch Mile an die Reihe. Sprosse um Sprosse zog er sich hoch. Es war gar nicht so einfach, das Gleichgewicht zu halten.
»Willkommen auf meinem Schiff«, knurrte es über ihm, kurz bevor er das Ende der Strickleiter erklommen hatte. Er hob den Kopf und erkannte den Umriss des Piraten, der ihm seine Hand zur Hilfe anbot, während er sich mit seinem Haken an der Takelage festhielt. »Danke«, antwortete Mile mit gedämpfter Stimme und liess sich über die Reling helfen. Als er endlich mit beiden Beinen auf dem Deck stand, kam ihm sogleich seine Schwester entgegen.
»Hey du, auch eine neue Rüstung?«, begrüsste er sie und musterte sie von oben bis unten.
Über ihrer dunkelblauen, ledernen Brigantine, die mit silbern glänzenden Nieten bespickt war, schützte ein stählerner Plattenkragen, der über dem Brustbein spitz zulief und mit dem Motiv eines Hirschkopfs geprägt war, ihre Brust. Das, der innere Teil der Brigantine und die Panzerung der linken Schulter und des Arms waren die einzigen Teile der Rüstung, die aus Metall bestanden. Dafür waren sie ohne Zweifel Zwergenhandwerk, das erkannte man an der detail- und zierreichen Schmiedekunst. Der Rest bestand aus schwarzem Leder, das hier und da mit Verzierungen bestickt war. An ihrer rechten Hand, mit der sie die Sehne ihres Bogens zurückzog, trug sie einen Schutz, der mit einem Band um ihr Handgelenk angebracht war und ihren Zeige-, Mittel- und Ringfinger in Leder hüllte. Das dunkelblonde Haar war ihr zu einem strengen Mozartzopf zurückgebunden, der unter der weiten Kapuze ihres schwarzen Unterkleids verschwand und auf ihrer linken Schulter wieder auftauchte. Natürlich fehlte auch Ellon'da nicht; der Bogen hing ihr samt Köcher auf dem Rücken. Weitere Waffen fanden sich an ihrem Gürtel in Form ihrer Mondsichelklingen.
Ihr Erscheinungsbild war einer Königin würdig. Daran sollte es nicht scheitern.
Die Eisprinzessin nickte. »Hat sich also gelohnt, dass in Aramesia unsere Masse genommen wurden. Der gute Deron, er wollte mich nicht ohne anständige Rüstung in die Schlacht schicken ...«
Mile schluckte schwer und nickte. »Wenn er den Tod auf Zeit überwunden hat, wird er in ein neues Zeitalter erwachen.«
»Sei nicht so optimistisch«, murmelte sie. »Du machst mir Angst.« Als sie seinen fragenden Blick sah, ergänzte sie: »Manchmal wusste ich nicht, wovor ich mich mehr fürchten sollte. Die Schlacht oder das, was auf sie folgen wird. Jetzt ist es die Schlacht. Definitiv die Schlacht ...«
Mile runzelte die Stirn. »Was kommt denn nach der Schlacht?«
Sie lachte freudlos und brummte: »Entweder wir sind tot oder ... wir müssen diese Welt regieren. Man wird Erwartungen an uns haben. Wie sollen wir das anstellen? Wir sind Kinder!«
Mile lächelte. »Eins nach dem anderen. Hab erstmal einfach nur Angst vor der Schlacht.«
Sie zog das Trollnäschen kraus. »Hey, wie sieht es eigentlich aus mit den Truppen?«
»Als wir los sind, ist gerade die sechste Division von der Basis aufgebrochen.«
»Dann wird es nicht mehr lange dauern ...«, stellte sie fest und rieb sich übers Gesicht.
Mile legte seiner Schwester einen Arm über die Schultern. »Wird schon«, brummte er. »Pass bitte einfach gut auf dich auf!«
»Und du auf dich.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt