Kapitel 22 - Dom Askur

1.3K 73 142
                                    


Kapitel 22

Dom Askur


~Sabrina~
1. Weda 80'024 ☼IV – Mobarro, Om'agri, Twos

Im Zentralwald des Elfenreichs senkte sich die Erde, wurde zum Grünen Becken – Vri'básho – dessen steile Hänge von den Wurzeln einer gigantischen Esche geadert wurden. Dort musste vor unzähligen Jahren der Samen dieses für die Elfen heiligen Baums auf den fruchtbaren Beckengrund gefallen sein. Es gab Mythen, die besagten, Chaya, die Taukaiserin; Urherrscherin über den Frühling persönlich; hätte ihn gepflanzt, andere verbreiteten den Glauben, Dom Askur sei aus einem Samen des Weltenbaum Omnos gesprossen und wieder andere glaubten, dass Weda, der Gott von Wald und Vegetation, wie seine Astrale; die Dryaden; in einem Baum wohnte – in diesem Baum; Dom Askur.
Bis in die luftigen Höhen, in denen die Jolly Roger auf Kaitous geschenktem Wind segelte, erklangen die Hornstösse der Späher der Elfen, gaben die frohe Botschaft ihrer Ankunft weiter, damit sich die Bewohner Dom Askurs auf den Empfang der Eisprinzessin vorbereiten konnten.
Die Elfen, die rund um ihre Hauptstadt in den Barros verteilt lebten, um sie vor Angreifern aus dem Wald zu verteidigen, begrüssten sie, indem sie überall aus dem Blattwerk des Mobarros Flugdrachen aufsteigen liessen sowie Banner und Fahnen hissten. Aus Papier hatten sie Motten gebastelt, die sie an Schnüren in den Winden tanzen liessen. Diese weissen Falter fanden sich auch auf dem goldenen Grund der Banner Dom Askurs wieder, denn die weisse Seidenmotte war das Wappentier der Stadt.
Schliesslich waren sie nahe genug geflogen, sodass sie die gigantische Silberesche aus der Nähe betrachten konnten und nun, da Sabrina zum ersten Mal die Architektur der Elfen bewundern konnte, fiel ihr vor Überwältigung der Kinnladen runter.
Musterte man den Stadtbaum von unten bis oben, sah man zuerst den Grund des Grünen Beckens. Dort wanden sich wirre Wurzeln in, aus und über die Erde, was man nutzte, um in die Zwischenräume Häuser zu bauen. Die meisten wirkten sehr einfach, aus Stein und Lehm geformt. Überall wuchs und gediehen farbenfrohe Blumen, die sich über Stein und Wurzeln rankten.
Der grösste Teil der Bevölkerung lebte jedoch nicht am Boden, sondern entlang des Stammes.
Am Fusse des Baumes klebten ganz dicht aneinander tausende Häuser an der Rinde, allesamt aus braunem Lehm geformt, schlangen sich um die Esche wie ein schlammiger Gürtel, mit unzähligen dunklen Fensteraugen und Türmündern. Hölzerne Stege verbanden die Gebäude miteinander, hier und da waren es auch nur Strickleitern oder Hängebrücken.
Einige Meter darüber kränzten Plattformen den Stamm, die von dicken Metallpfählen in der Luft gehalten wurde wie Pilze mit breiten, flachen Hüten und langen Stielen. Diese Plattformen waren sehr gross, bei den meisten schien es sich um öffentliche Plätze zu halten. Hier war neben dem Holz und Stoff ein wichtiges Baumaterial, denn weite, meist zinnoberroten Bahnen waren zu Zelten oder Markisen und Sonnensegeln aufgespannt. Überall flatterten Banner, Fahnen, Bänder in der Luft, waren Laternen und Klangspiele aufgehängt und Fächer und Räder in allen Grössen drehten sich im Wind.
Die nächste Ebene schien etwas strukturierter zu sein, denn die Häuser dort sahen besonders stabil aus. Sie erinnerten mit ihren dicken Holzgerüsten an Fachwerkhäuser, da die Gefache - also die Zwischenräume der hellen Balken - genau wie in Modo mit Lehm und ab und an auch mit Stein gefüllt waren. Das interessante dieser Gebäude war jedoch, dass ihre Form die von Schwalbennestern war, in deren gerundete Bäuche Fenster eingelassen waren. Die Dächer waren mit Stroh gedeckt, was dieses Stockwerk vorwiegend gelbgolden färbte. Dies unterstützten auch die in derselben Farbe wehenden Banner. Anstelle von wackligen Holzstegen hatte man hier lieber Brücken und Wege aus Stein entlang des Stammes gebaut. An manchen Stellen verbreiteten sich diese Wege und wölbten sich zu runden Terrassen, die Platz für Versammlungen und Märkte boten.
Wieder einige Meter über den Fachwerk-Schwalbennestern fand sich drei runde Stege, die in nach oben hin schmäler werdenden Ringen ganz um den Stamm herumführten. Wände für Häuser errichtete man dort nicht, nur metallene Zäune und Gitter waren aufgezogen worden, um die sich dichte, jahrhundertealte Schichten an Kletterpflanzen wanden. In dieser Höhe begannen die ersten Zweige aus dem Stamm zu spriessen und daran waren die Behausungen angebracht, die man an dicken Metallketten aufgehängt hatte. Besagte Behausungen waren runde Nester, die man aus Zweigen und Bambus geflochten und gebunden hatte und weil sie in grosser Anzahl dicht beieinander hingen, wirkten sie wie Trauben sonderbarer Früchte. Diese Nester besassen nur schmale Fenster, die ein wenig an Schiessscharten erinnerten. Zudem waren an den Spitzen der Äste Geschütze angebracht - Ballisten, wie Sabrina sie neben den Kanonen auf dem unteren Geschützdeck gesehen hatte, als sie sich einmal heimlich trotz Eds Drohungen, auf die unteren Decks geschlichen hatte. All das liess darauf schliessen, dass dort das Militär der Elfen untergebracht war; die Kaste der Quari.
Über den Kriegern mussten sich somit die Heiler befinden, denn Eril hatte einmal erwähnt, dass die Elfen die Heilkunst knapp über die Kriegskunde schätzten. Das Heim der Wiruri sah auch dementsprechend aus. Stabile Plattformen, die ebenfalls an Baumpilze erinnerten, jedoch mehr wie Zuckerpilze, die nicht von Stielen getragen, sondern direkt an der Rinde hafteten. Auf diesen stabilen, aus bronzefarbenen Metallen konstruierten Plattformen, standen wunderschöne Pagodenhäuser. Die weiss gestrichenen Lehmwände und himmelblau geschindelten Dächer mit gebogenen Giebeln strahlten Ruhe und Geborgenheit aus. Auf grosse Teile der Plattformen war Erde aufgeschüttet worden, sodass weiche, minzfarbene Grasteppiche grau gepflasterte Wege säumten. Entlang der nun breiter und stärker werdenden Äste waren Beete angelegt. Pflanzen aller Art gediehen dort und Sabrina erkannte sogar einige Sträucher Schlummertulpe darunter.
In einem viel prunk- und geheimnisvolleren Silber und Purpur war das Stockwerk über den Wiruri gehalten. Die Gebäude dort standen nicht auf irgendwelchen Plattformen oder Pfählen, wie Parasiten ragten sie direkt aus der Rinde. Sie bogen sich aus dem Stamm zu senkrechten, runden, versilberten oder purpurn gestrichenen Türmen. Diese Bauwerke erinnerten an Lavendelsträucher, denn wie sich bei der Pflanze am Ende des Stiels ein Blütenstand ballte, waren oben auf dem Bauwerk gläserne Kugeln angebracht. Diese waren hohl und bewohnt, jede schien ein Zimmer zu sein. Viele waren klar, doch ein farbiger Schimmer wie bei Seifenblasen verhinderte, dass man sehen konnte, was im Inneren vorging. Andere waren purpurn gefärbt, was die Lavendeloptik verstärkte. Auch hier wurden die Äste als zusätzlichen Raum genutzt, denn auch auf ihnen standen die Lavendeltürme.
Die siebte Ebene begann, wo der Stamm sich zu dicken Ästen spaltete. Doch diese waren so gewachsen, dass sie zwischen ihnen eine Art Senke bildeten, in dem ein mächtiger Palast stand. Er war aus schwarzem Marmor gebaut und hatte die Form eines Oktagons, das an jeder Ecke wiederum von acht kleineren dünneren, spitzen Türmen umgeben war, was ein wenig an Dornen oder die Zacken einer Krone erinnerte. Passend dazu war jedes Fenster, jede Tür, jede Säule, jede Zierde vergoldet, doch gekrönt wurde alles von der Pyramide, die in der Mitte des Oktagons stand, jede der vier Seiten ganz und gar aus Gold. Dies musste Königin Amiéles Palast sein, die metaphorische Krone des Elfenbaums, doch tatsächlich gab es noch etwas darüber und als Sabrina sich an Erils Bericht über diese achte Kaste des elfischen Staats erinnerte, wurde ihr entgegen all der Schönheit Dom Askurs etwas mulmig zumute.
Wie Wolken hingen weisse, seidige Kokons in den Ästen des Baumes verteilt. Manche einzeln, andere in grösserer Anzahl wie Kätzchen oder Ären. Sie liessen sich wie an Flaschenzügen am Baum hinablassen, konnten so gelenkt werden, dass sie von jedem der Stockwerke, bis auf die Wurzeln, erreicht werden konnten. Dies waren die Wohn-Kokons der Oktamri – die Harems, die Freudenhäuser, das buchstäblich- und sinnbildliche Zuchthaus der fruchtbaren Elfen Dom Askurs.
Jeremy Topper hatte mit Sabrina auf dem Hauptdeck trainiert, als Peter Pan im Krähennest das Horn im Ausguck geblasen hatte, laut genug, um die Sturmwinde zu übertönen, und anzukünden, dass sie Dom Askur erreicht hatten. Es war der jungen Eisprinzessin kaum die Zeit geblieben, den Eisfilm, den sie beim Üben über die Planken verteilt hatte, wieder schmelzen zu lassen, damit niemand der an Deck rennenden Piraten stürzte.
Nun drängte sich beinahe die komplette Crew der Jolly Roger ans Oberdeck, alle wollten sie einen Blick auf die berühmte Elfenstadt erhaschen. Wer es nicht rechtzeitig in die Takelage geschafft hatte, wollte nun möglichst Backbord zur Reling, um begeistert die Finger Richtung Horizont zu recken und staunend die Augen aufzureissen. Einige von ihnen nahmen dabei die Kinder auf die Schultern, damit auch sie sehen konnten, wohin sie ihre Reise geführt hatten und die kleinen Verlorenen quietschten nur so vor Aufregung.
Sabrina hatte, klein und schmal wie sie war, kaum eine Chance, über die Köpfe der Menge hinweg zu spähen, doch Falk, der auf dem Achterdeck am Steuerrad stand, winkte sie zu ich herauf auf die Galerie, die zu betreten eigentlich nur das Privileg ranghöherer Crewmitglieder war, wie Sabrina vor einigen Tagen erst erfahren hatte, doch sie hatte von Falk die Sondererlaubnis bekommen.
So standen sie nun alle eine Weile lang da und gafften der Elfenstadt entgegen, die nur schon aus dieser Distanz sehen zu dürfen, eine unglaubliche Ehre war, denn die Elfen erlaubten es nur alle hundert Jahre mal wenigen Auserwählten einer anderen Spezies, ihre Wälder zu bereisen. Der Kapitän schien das seinen Untergebenen auch nur zu gönnen, denn er liess sie diese Fantastik geniessen, bis er sich nun doch vorlehnte, um mit dem Haken gegen die Schiffsglocke zu schlagen, damit alle wieder auf ihre Posten gingen.
»Also, Kameraden!«, rief er über das Oberdeck hinweg, als alle an ihrem Platz waren. »Wir gehen den Sinkflug an! Haltet euch bereit anzulegen. Ziel wird der Flughafen der Quari-Ebene sein, das ist der vierten Stock dieses Baumes, der mit den grünen Bannern. Alles klar, Kameraden?«
»Aye, aye Käpt'n!«, brüllten die Piraten im Chor und Falk drehte ein Rädchen am Sturmglas, um den Wind zu schwächen.
Augenblicklich begann das Schiff an Höhe zu verlieren. Taue wurden eingeholt, Rufe schallten übers Deck.
»Fender, Bug- und Heckleine bereitlegen!« - »Bugleine klar!« - »Heckleine klar!« - »Aye, Fender klar!«
Es dauerte nicht lange, da segelte die Jolly Roger in Schraubflug um den Baum herum und Sabrina schlug eine Welle des Jubels entgegen. Überall auf den Plattformen, den Stegen und Brücken standen Elfen verschiedenen Geschlechts und Alters. Tatsächlich wirkte es nicht nach besonders viel und vor allem Kinder gab es fast keine. -Es wurde also nicht untertrieben, wenn man von einem Aussterben der Elfen sprach ...
Alle waren in die Farbe ihrer Kaste gekleidet, nur selten stach ein helles Blau aus einem Meer aus Gelb. Nur das dunkle Grün der Quari war auf jeder Ebene zu finden. Die Askuri brüllten Sabrinas Namen, der mit dem starken feléenischen Akzent der Elfen regelrecht exotisch klang. »Vivri jar aartori troz!«, riefen sie immer und immer wieder im Chor. Einige von ihnen hatten geflochtene Körbe bei sich und als sie diese öffneten und in die Tiefe kippten, regnete es Blumen und bunte Bänder. Einige wurden auch auf das Deck der Jolly Roger geweht, sodass der ein oder andere Pirat das Tau in seiner Hand vergass und verträumt eine der bunten Blüten auffing.
Eine der Blumen landete Sabrina auf dem Arm, doch als sie diesen hob, um sie sich besser ansehen zu können, erkannte sie, dass es eine weisse Seidenmotte war. Aus grossen, schwarzen Facettenaugen blickte sie zu Sabrina auf, bewegte die gefächerten Fühler, dann breitete sie die flaumigen Flügel aus und flatterte davon.
»Wie putzig«, meinte Faritales, der ihr auf der Schulter sass. Er war seit der Nacht in Falks Träumen nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Angeblich würde er erst gehen, wenn er seinen Lohn bekam, doch Sabrina glaubte, dass er tatsächlich gern bei ihr war. Fast wagte sie, Fari als einen Freund zu bezeichnen ...
Sabrina sah dem Falter nach und so erblickte sie einen seiner Artgenossen, nur hätte dieser niemals auf ihrem Arm landen können. Diese Motte war so gross wie ein kleines Segelflugzeug und auf ihrem pelzigen Rücken, sass eine Elfe.
»Ich glaube, es will jemand an Deck landen!«, rief Sabrina, die sich zu Falk umgedreht hatte, doch er schien den übergrossen Falter samt seiner Reiterin bereits bemerkt zu haben. Er war dabei, seine Matrosen anzuweisen, auf dem Puppdeck Platz zu machen, damit das Tier landen konnte.
Sabrina eilte den Niedergang zum höchstgelegensten der Decks hinauf, um die Elfe zu begrüssen. Diese stieg eben vorsichtig vom Rücken ihres Flugtiers und salutierte steif, als Sabrina sie erreichte.
»Zro saluri«, sprach die Elfe, die die dunkelgrüne Uniform des Elfenmilitärs trug. Einige Abzeichen waren ihr auf die Brust gestickt worden, sogar einen Orden trug sie. Ihre Haut war sonnengebräunt, ihr langes, safranblondes Haar trug sie offen. Ihr Blick war irritierend und erst wusste Sabrina nicht recht wieso, bis sie bemerkte, dass die leicht schrägstehenden und mandelförmigen Augen, verschiedenfarbig waren. Das linke blau, das rechte grün. Beide blickten streng, als sie fortfuhr: »Mein Name ist Brée Zafraan, ich bin eine Majorin der Quari-Kaste. Im Auftrag Königin Amiéles, Lordadmiral Jacoris und aller Bürger Om'agris begrüsse ich die Aartori Sabrina Beltran in Dom Askur, Heiligtum des Sakratums und Stadt der Seide. Ihr und Eure Anhänger sind herzlich willkommen!«
Sabrina wusste nicht recht, ob es die Sitte verlangte, dass sie sich verbeugte, knickste oder gar ebenfalls salutierte, also nickte sie nur und lächelte die Quari an. »Ich freue mich auch«, antwortete sie. »Dieser überschwängliche Empfang wäre doch gar nicht nötig gewesen!«
Majorin Zafraan ging nicht weiter auf sie ein, machte nur einen Schritt zur Seite und bot Sabrina einen Platz auf ihrer Motte an. »Der Lordadmiral erwartet Euch, Herrscherin.«
Sabrina machte grosse Augen. »Jetzt gleich?! Allein?!«
Die Majorin nickte stumm.
Sabrina musterte den riesigen Falter. Sie war auch schon auf Drachen geflogen, es konnte also nicht zu schlimm werden. Unwohl wurde ihr mehr bei dem Gedanken, allein gehen zu müssen.
Trotzdem überwand sie sich, verabschiedete sich mit einem »Wir sehen uns!«, von der Crew der Jolly Roger, was von allen mit Winken und von Falk mit einem »Viel Erfolg!« beantwortet wurde und tat Sabrina, was von ihr erwartet wurde. Vorsichtig stieg sie auf den Rücken der Motte und griff in den weichen Pelz.
»Was ist damit?«, fragte die Majorin, die sich eben vor sie auf das Insekt setzte und deutete auf Sabrinas Schulter.
Sie hörte, wie Faritales Luft holte, vermutlich um bei der Elfe mit seiner Grässlichkeit anzugeben, doch Sabrina kam ihm zuvor.
»Mein Haustier, sieht man das nicht? Eine Flederkatze aus Bolwin, sie ist mir eines Tages zugeflogen und nun ist sie immer bei mir.«
Faris Krallen bohrten sich in ihren Arm, scheinbar musste er Druck ablassen, denn er war schlau genug, zu verstehen, was sie bezweckte. Obwohl diese Verletzung seines Stolzes mindestens noch fünf weitere Träume auf seine Rechnung setzte.
»Ich werde sie doch mitnehmen dürfen, ja?«
Die Quari hob unschlüssig die Brauen. »Was Haustiere angeht, wurden mir keine Befehle erteilt ...«
»Na also!«, meinte Sabrina da und nickte. »Dann sollte das je kein Problem sein!«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt