Sie wusste nicht wie sie hierher gekommen war. Irgendwo in der Ferne spielte ein Klavier eine Melodie, die wie fließendes Wasser klang. Der See unter ihren Füßen lag allerdings vollkommen ruhig da, nur wenn sie ihre nackten Zehen bewegte, wurden kleine Wellen sichtbar. Das Kleid an ihrem Körper hingegen hörte nicht auf sich zu bewegen. Es war, als würden unaufhörlich Wellen über sie laufen, aus wunderschönem, kristallklaren Wasser, das keinen Anfang und kein Ende hatte.
Vorsichtig trat sie einen Schritt nach vorne, unwissend, ob die klare Fläche sie auch halten würde, wenn sie sich bewegte. Doch außer den kleinen Wellen, die aufkamen, rührte sich nichts. Somit traute sie sich, weitere Schritte zu tun, zu Anfang nur kleine, verunsicherte, dann immer größere, bis sie in der Mitte des Sees angekommen war. Das funkelnde Wasser und die Musik hatte sie in ihren Bann gezogen, sie fühlte sich so leicht und unbeschwert. Nun gab es für sie kein Halten mehr; ihre Füße bewegten sich wie von selbst, als sie sich dem Klang der Musik hingab. Ein paar Schritte vor, ein paar zurück, dann eine Drehung. So tanzte sie über das Wasser, erst auf das Land zu und dann doch wieder davon weg. Impulsive Sprünge wie Wellen, die an Klippen zerschellten und ein gemächliches Gleiten wie ein sanfter Meergang wechselten sich in ihrem Tanz ab. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie fliegen, so leicht war ihr zumute. Wenn es ein Traum war, so wollte sie nie wieder aufwachen. Doch ihre Meinung änderte sich schnell.
Mit den letzten Klängen der Musik begann sich die Welt um sie zu verändern. Die Blüten fielen von den umherstehenden Pflanzen und verwelkten innerhalb von Sekunden. Auch die Bäume wurden zusehends trockener und verdorrten, bis sie nur noch Skelette ihrer selbst waren und das Gras verfärbte sich braun und gelb. Alles, was sie gerade noch so schön fand, wurde in einem Augenaufschlag zerstört. Was blieb war ein Schatten, der sich wie ein schwerer Mantel über die Welt legte und sie zu zerdrücken drohte.
Nun war das einzige, was sie wollte, weglaufen, fort von hier und dieser Last, die sich wieder auf sie legte. Doch als sie versuchte, einen Schritt zu tun, ließ sich ihr Fuß nicht bewegen. Erst jetzt merkte sie, dass auch der See nicht mehr der war, auf dem sie tanzte und mühelos gehen konnte. Sie stand im Herzen eines Sumpfes, der seine modrigen Finger erst um ihre Füße und langsam auch um ihre Knöchel und Beine legte. Sie hatte keine Chance zu entkommen; obwohl sie sich mit aller Kraft gegen diese Fesseln stemmte, wurde sie immer weiter in den Morast gezogen. Verzweifelt versuchte sie nach etwas zu greifen, was nicht da war, da bemerkte sie, dass auch ihr Kleid sich verändert hatte. Die sanften Wellen waren zu dicken, dornigen Ranken geworden, die sich in ihrer Haut vergruben und sie mit jeder Bewegung ein Stückchen weiter öffneten.
Nun wollte sie aufwachen, hinaus aus diesem Traum, der sie zu zerstören drohte, doch je weiter sie kämpfte, desto klarer wurde ihr: dies war kein Traum. Der Schmerz, der langsam ihre Bewegungen lähmte und das Gefühl von warmen Blut und kalten Moor machte ihr dies klar. Sie hatte keine Möglichkeit zu entkommen, niemals könnte sie sich selbst befreien und es würde auch niemand kommen, der ihr half.
Als ihr dies klar wurde, begannen ihre Bewegungen zu erstarren, bis ihr Körper vollkommen erschlaffte. Nun waren die schleimigen Fesseln bis an ihr Gesicht hoch geklettert und überdeckten Mund und Nase, füllten sie mit ihrem Material, doch sie war bereit. Ruhig schloss sie die Augen und wartete nur noch auf die Schwärze.
Vielleicht würde hinter dieser ein See liegen, auf dem sie ewig zur Musik tanzen konnte.
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Tiefe
Short StoryDie Gegenüberstellung mit dem eigenen Dämonen. Das Ertrinken in den eigenen Gefühlen. Meine Gedanken und Gefühle, verpackt in Kurzgeschichten aus den Tiefen meiner Selbst.