Mauerblümchen

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Sie stand vor einer Mauer, deren oberstes Ende zum greifen nah schien. Schon einige Male hatte sie sich nach ihr ausgestreckt, jeden Muskel angespannt und mit lang gemachtem Arm an die Wand gedrückt versucht, auf den Zehenspitzen die Kante zu erreichen; einige male war sie auch mit Anlauf an ihr hoch gesprungen, doch alles, was es ihr brachte, waren Schürfwunden und verstauchte Füße. Es schien ihr so, als würde der Abstand nie geringer werden, als würde die graue Mauer ein Stück größer werden, sobald sie es auch wurde. Jeder gescheiterte Versuch machte es ihr schwerer ihre Hoffnung daran, dass sie eines Tages die andere Seite erblicken würde, nicht zu verlieren.

Oft stellte sie sich vor, wie sie an dieser grauen, uneinnehmbaren Festung vorbei kommt, wie es hinter ihr aussieht. In ihren Träumen war es ein magischer Ort, voller Farben und Leben, wo die Menschen sich trafen, miteinander lachten und einfach glücklich waren. Doch immer, wenn sie sich zu ihnen gesellen wollte, verschwamm das Bild und sie wurde in die grausame Realität zurück geschleudert. Dort gab es kein grünes Gras, keine blühenden Blumen und Bäume. Nur Steine, große, kleine, spitze, flache, von jeglicher Form und Größe; doch sie alle waren Steine. Und Staub, viel Staub, der den Boden wie eine Decke überzog. Die einzigen Farben, die sie kannte, waren die der seltenen Regenbogen, die sich in Pfützen bildeten, wenn sie mal wieder ungeschützt dem launischen Wetter ausgesetzt war.

Eines Tages, als sie wieder an der Mauer saß und kurz davor war, auch noch ihre Hoffnung, das letzte, was sie am Leben hielt, zu verlieren, tauchte jemand am Horizont auf. Es war ein anderer Mensch, gezeichnet von Leid und Schmerz, der Körper nur noch eine Last für seinen Besitzer. Er ähnelte ihr sehr, denn auch seine Hoffnung war kurz davor zu erlischen, doch ebenso begann bei beiden diese wieder aufzuleuchten, als sie den anderen sahen. Mit letzter Kraft schleppte er sich zur Mauer, während sie aufstand und ihm zur Hälfte entgegen kam, um ihn zu stützen. Nun standen sie beiden vor dem unheilvollen Monstrum, doch sie waren zu zweit.

Er drehte das Gesicht zu ihr. Ob sie ihm hinüber helfen würde, fragte er und sie willigte ein, denn wenn er dort oben wäre, so könnte er ihr die Hand reichen und sie mit sich ziehen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, verschränkte die Hände und ging leicht in die Hocke. Nun hatte sie einen festen Stand und fühlte sich so sicher, wie schon lange nicht mehr.

Er nahm keinen Anlauf, stellte seinen Fuß einfach in ihre Hände und ließ sein gesamtes Gewicht auf diese fallen. Er war schwerer als erwartet; sie wurde noch ein Stückchen kleiner in dem Versuch, ihn zu halten, aber aufgeben kam nun nicht mehr infrage. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, stemmte sie ihn hinauf, drückte mit aller Macht seinen gesamten Körper näher an die Kante; ein flüchtiger Blick hinauf verriet ihr, dass er nun imstande war, diese zu erfassen. Doch er tat es nicht, verlangte vielmehr, sie solle ihn weiter hinauf heben.

Wieder sammelte sie ihre Kraft in ihren Händen und stemmte ihn weiter hinauf. Ihre Handinnenflächen schmerzten bereits - sie spürte, wie sich das Muster seiner Schuhe auf ihre Haut abzeichnete - und ihre Beine waren kurz davon, nachzugeben. Doch einen Moment, bevor sie zusammenbrach, hatte sie es geschafft und er konnte ohne Mühe auf die Mauer klettern. Sie hingegen musste sich fallen lassen und wieder zu Atem kommen, doch in ihrem Gesicht war das pure Glück zu sehen. Sie war stark geblieben und nun würde sie ebenfalls diesen schrecklichen Ort verlassen. Sobald sich ihre Muskeln etwas erholt hatten stand sie auf, sah hinauf und streckte die Hand aus - doch dort war niemand mehr. Wo gerade noch er stand, landete der aufgeworfene Staub wieder auf dem grauen Absatz. Er hatte sie einfach vergessen; aber er war nicht der erste.

Wie immer, wenn sie hier stand, wurde sie von der Vergangenheit eingeholt; von all den Menschen, die hierher kamen und denen sie hinüber geholfen hatte. Sie alle hatten gesagt, sie würden sie hinüber ziehen, sobald sie dort waren, doch niemand war lange genug dort oben geblieben, um es wirklich zu tun.

Sie ließ sich zurück an die Mauer fallen, wieder in den Staub, in die Leere, doch in ihren Augen hatte sich wieder der Funke der Hoffnung festgesetzt. Und tief in sich wusste sie: sobald er zu erlischen drohe, würde wieder jemand auf der Suche nach Hilfe und mit falschen Versprechungen im Gepäck kommen, um den Kreislauf am Leben zu erhalten.

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