Es war ein milder Frühlingsabend und einige Regentropfen schlugen leise gegen das Schaufenster. Langsam führte Maya die Kaffeetasse an ihre Lippen und genoss das beruhigende Geräusch. In ihrem Laden war es totenstill und nur der Regen erinnerte sie daran, dass das Leben und nicht nur ein geräuschloser Tagtraum war. Sie sah zu der alten Standuhr in der Ecke. Es war kurz nach fünf. Sie wollte eigentlich erst in einer Stunde schließen, aber heute schien ohnehin niemand mehr aufzutauchen. Das Geschäft lief in letzter Zeit nicht besonders und sie fragte sie oft, wie lange das noch so weitergehen konnte. Der Laden war seit 150 Jahren in Familienbesitz und hatte sich seitdem über Wasser halten können. Das ist bloß eine schlechte Woche, dachte sie und stellte ihre leere Tasse im Hinterzimmer ab. An der Tür wollte sie die Jalousie runterziehen und das Geöffnet - Schild zu Geschlossen umdrehen, als ihr auf der anderen Straßenseite im schwachen Schein einer Laterne eine Gestalt auffiel. In der Dunkelheit konnte sie niemanden genau erkennen, aber die Person starrte zu herüber, so viel war sicher. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie beschloss, den Laden durch die Hintertür zu verlassen. Nachdem sie alles abgeriegelt hatte, warf sie sich ihren Mantel über die Schulter, drehte das Licht ab und griff nach ihrem Schirm.
Der Regen draußen hatte sich zu einem regelrechten Sturm gewandelt und der peitschende Wind zerrte an ihren Haaren. So konnte sie wirklich keinen Schirm aufspannen. Seufzend stellte sie den Kragen ihres Mantels hoch und ging im Laufschritt durch die Gasse und dann die Straße runter. Der Wind heulte in den Regenrinnen auf und ließ es wie eine unheilvolle Drohung klingen. "Du bist doch kein kleines Kind mehr, dass sich vor einem Gewitter fürchtet!", rief sie sich selbst zur Ordnung, beschleunigte ihren Gang aber dennoch. Irgendetwas an diesem Abend bereitete ihr eine Gänsehaut. Es wurde noch seltsamer, als einer der vorbeifahrenden Wagen anhielt und die Scheibe runterließ.
"Verzeihen Sie, Miss?", erklang eine männliche Stimme. Sie sah zu dem Fahrer rein. Er war wohl in den Vierzigern und hatte eine Glatze, was seinen durchbohrenden Blick unheimlich erscheinen ließ. "Ja?" "Ich suche jemanden. Einen jungen Mann, in etwa ihrem Alter. So um die 25. Er hat schwarze Locken und grüne Augen, ist groß und schlank. Er ist gefährlich und es ist wichtig, dass wir ihn schnell finden." "Sind Sie von der Polizei oder so? Scotland Yard?" "Eher oder so. Haben Sie ihn gesehen?", fragte er nun deutlich strenger.
Maya runzelte die Stirn. Die Gestalt, die sie vorhin im Laden beobachtet hatte. Anderseits konnte sie nicht genau sagen, ob er es war und dieser Kerl wirkte auch nicht gerade vertrauenswürdig. Und wenn er ein Beamter wäre, hätte er doch eine Marke, oder? "Tut mir leid, ich hab niemanden gesehen, auf den die Beschreibung passt.", antwortete sie so gleichgültig wie möglich. Seine Augen fixierten sie noch einmal, als wolle er herausfinden, ob sie die Wahrheit sagte. Schließlich ging die Scheibe ohne ein weiteres Wort nach oben und er fuhr davon.
Erst da bemerkte Maya, dass sie während der letzten Sekunden dem Atem angehalten hatte. Erleichtert stieß sie die Luft aus und setzte ihren Weg fort. In ihrer Wohnung angekommen, hängte sie ihren Mantel auf, schmiss ihre Schuhe in die Ecke und warf sich auf ihr Bett. Es war gerade mal halb sechs und eigentlich war sie schon heute morgen todmüde gewesen. Aber aus irgendeinem Grund war ihre Neugierde geweckt.
Sie holte sich einen Muffin aus der Küche und setzte sich mit ihrer dicken Strickjacke ans Fenster. Von dort sah sie genau auf die Straße, wo der Mann sie aufgehalten hatte. Aber als es nach einer halben Stunde immer noch so ruhig wie zuvor war, gab sie auf. Vielleicht war das alles auch nur ein blöder Zufall oder ein paar Freunde hatte eine Art Spiel laufen, deren Logik sie gar nicht erst zu begreifen versuchte.
Ihre Freunde waren immer schon die Bücher gewesen und daran hatte sie eine Familie aus Buchhändlern auch nie gestört. Im Wohnzimmer stand auf der Kommode ein Foto von ihr und ihren Eltern. Es war einem Weihnachtsmorgen aufgenommen worden und alle drei grinsten mit verschlafenem Gesichtsausdruck und noch in ihrem Pyjamas in die Kamera.
Vorsichtig strich sie über das Glas des Bilderrahmens, eher sie es zurückstellte. Dann machte sie den Fernseher an und ließ sich auf ihre alte Ledercouch fallen. Es lief eine alte Sitcom, bei der ihr schon nach zehn Minuten die Augen zufielen. Kurz bildete sie sich ein, ein Kribbeln zu spüren, aber das war sicher die Täuschung eines Traums.
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Im Bann der Zeit
FantasyFür Maya Eversfield gibt es nur ihren kleinen Buchladen in der Londoner Innenstadt. Ihr Leben verläuft eintönig wie immer. Bis sie eines Tages einem geheimnisvollen Fremden in altmodischer Kleidung und mit einer goldenen Taschenuhr trifft. Er will e...