Am nächsten wurde Maya von der Sonne geweckt, die durch das Fenster auf ihre Nasenspitze schien. Gähnend setzte sie sich auf und starrte auf ihr Handydisplay. Halb neun! Wieso hatte ihr Wecker nicht geklingelt? Schnell sprang sie auf und verpasste sich eine Katzenwäsche, eher sie in frische Kleidung schlüpfte und aus dem Haus stürmte. Obwohl die Sonne schien, tauchten am Horizont schon wieder einige Regenwolken auf. Nur mit Mühe rannte Maya den ganzen Weg bis zu ihrem Laden. Sie schaffte es gerade so, dass sie pünktlich um neun öffnen konnte, als auch schon der erste Kunde kam. Eine ältere Dame mit runder Brille und einem warmen Lächeln. "Guten Morgen.", begrüßte sie sie.
"Guten Morgen, Madam. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Suchen Sie ein bestimmtes Buch?" Die Frau nickte. "Mein Enkel hat in zwei Tagen Geburtstag und liebt Märchen über alles." Maya ging die Regale durch. Sie holte eines über Märchen aus England und eines mit Märchen mit Märchen aus aller Welt heraus, und zeigte beide der Kundin. Diese begutachtete beide. "Welches würden Sie empfehlen?" "Nun, in dem dickeren hat man nicht nur mehr Märchen, sondern man lernt auch etwas über andere Kulturen und wenn ihr Enkel gerne Märchen liest, wird ihn das sicher auch interessieren." Die Dame grinste. "Das nehme ich, bitte."
Maya kassierte und packte das Buch ein. "Hoffentlich hat ihr Enkel viel Freude damit.", sagte sie zum Abschied und die Frau schenkte ihr ein letztes, freundliches Lächeln, eher das kleine Glöckchen an der Tür verriet, dass sie den Laden verlassen hatte. Die nächste Stunde blieb der Laden wieder leer und sie nutzte die Zeit, sich ein wenig Kaffee zum Wachwerden zu kochen. Als gegen Mittag immer noch keine Kunde auftauchte, ging sie ins Lager, um ein wenig aufzuräumen. Was auch dringend nötig war. Alte Archivsaufzeichnungen, Kartons, überschüssige Ware, Putzmittel und einige Werkzeuge ihres Vaters sammelten sich in einer kleinen Kammer im hinteren Teil des Ladens. Seufzend holte sie sich einen Staubwedel und einen Müllbeutel und begann alles unnötige zu entsorgen.
Gegen Nachmittag war sie fast fertig, als sie erneut dieses seltsame Kribbeln auf der Haut spürte. Also war es wohl doch nicht nur ein Traum gewesen. Kurz darauf erklang das Glöckchen an der Tür. Hastig streifte sie sich ihre Putzhandschuhe ab und trat in den Verkaufsraum. "Guten Tag.", grüßte sie ihren Kunden und als sie ihn genauer betrachtete, sog sie scharf die Luft ein. Der Mann, nachdem der Kerl gestern gesucht hatte! Er stand hier! In ihrem Laden! Er trug einen alten, braunen Mantel und darunter konnte sie eine Anzughose und ordentliche Schuhe erkennen. Seine schwarzen Locken waren hinten kurz geschnitten, hingen ihm aber vorne etwas in die Stirn. Er hatte ein freundliches Lächeln, das auf den ersten Moment nicht bedrohlich wirkte.
"Guten Tag.", begrüßte er sie zurück. Seine Stimme klang ruhig und gefasst. Ganz anders als Maya sich im Moment fühlte. War er tatsächlich gefährlich? Er sah nicht danach aus. "Sind Sie Miss Eversfield? Die Besitzerin des Ladens?" Sie schüttelte ihre Sorgen ab. "Ähm ... Ja. Suchen Sie ein bestimmtes Buch?" Er räusperte sich. "Offengestanden, ich habe eigentlich nach Ihnen gesucht, Miss Eversfield." Er hatte eine feine Ausdrucksweise, was diese Aussage nicht weniger merkwürdig machte. Sie verschränkt die Arme. "Warum?"
"Ihre Eltern starben doch vor drei Jahren bei einem Autounfall, korrekt?" Sie spürte, wie sich Trauer und Wut über diese unverschämte Aussage in ihr vermischten und zu einem Sturm zusammenbrachen. "Woher wissen Sie das?", flüsterte sie leise. Er wollte antworten, aber sie hob abwehrend die Hand. "Nein, warten Sie! Ich will's gar nicht wissen! Gehen Sie einfach. Wenn Sie kein Buch kaufen wollen, dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen und meine Familie geht nur mich etwas an." Er senkte den Blick leicht. "Natürlich, Miss Eversfield. Verzeihen Sie, dass ich dieses ... heikle Thema auf solch zugegebenermaßen barsche Weise angesprochen habe, aber es ist wirklich wichtig, dass Sie mich anhören."
"Was soll denn so wichtig sein?", brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Nun, dieser Unfall ... er war wohl kein Unfall. Sondern Absicht." Maya spürte, wie ihr kalt wurde. "Was wollen Sie damit sagen? Sind Sie etwa auch von so einer Art Polizei wie ihr Freund gestern Abend?" Sofort bohrte sich sein Blick in den ihren und seine grünen Augen funkelten alarmiert. "Welcher Freund?" "Gestern Abend hat mich auf dem Weg nach Hause ein Mann mit Glatze angesprochen. Er hat jemanden gesucht, auf den Ihre Beschreibung passt." Selbst das ließ ihn nicht unruhig werden. Er griff in die Innenseite seines Mantels und zog eine goldene Taschenuhr hervor. Mit einem Klickern schnappte sie auf. Das leise Ticken der Zeiger übertönte die Stille, die sich plötzlich ausgebreitet hatte.
"Das ändert die Pläne immens.", murmelte er mit einem Blick zum Schaufenster. Draußen donnerte es und die ersten Regentropfen fielen vom Himmel. "Wovon sprechen Sie?", fragte Maya angespannt. "Miss Eversfield, es tut mir leid, das Ihnen mitzuteilen, aber Sie befinden anscheinend in großer Gefahr."
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Im Bann der Zeit
FantasyFür Maya Eversfield gibt es nur ihren kleinen Buchladen in der Londoner Innenstadt. Ihr Leben verläuft eintönig wie immer. Bis sie eines Tages einem geheimnisvollen Fremden in altmodischer Kleidung und mit einer goldenen Taschenuhr trifft. Er will e...