kapitel dreiundvierzig, BRIEFE AUS GEISTERHAND.

661 74 23
                                    













BRIEFE AUS GEISTERHAND.

Wir alle tragen Masken,
und es kommt der Zeitpunkt,
an dem wir sie nicht mehr abnehmen
können, ohne dabei Stücke
unserer Haut mit abzutrennen.

ANDRE BERTHIAUME



ANDRE BERTHIAUME

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.




1. März 1979

DIE EULE KRATZT AM FRÜHEN MORGEN an dem Fensterrahmen und weckt Eden. Normalerweise hätte sich das Mädchen darüber geärgert, doch Schlaf ist für sie nichts erholsames mehr. Stattdessen ist die Nacht getränkt durch Albträume, die auch beim Erwachen noch an ihr zerren.

     Ihre nackten Füße stoßen auf kalten Holzboden und am liebsten wäre Eden wieder zurück unter ihre wärmende Bettdecke geschlüpft.

     Seit einiger Zeit wohnt sie nun schon in einem Gästezimmer bei Lily und James. Lily ist im fünften Monat schwanger und hatte sie schon im Januar gefragt, ob Eden bei ihr leben würde während James auf einer Ordensmission in Schottland war. Nachdem die Nachricht von Regulus' Tod sie erreicht hatte, war Eden nur allzu froh, eine Freundin um sich zu haben. Die beiden Mädchen kümmern sich umeinander. Die eine versinkt in Angst und die andere in Trauer, doch scheint es ihnen zu helfen, für jemand anderen stark sein zu müssen. Es ist sosehr eine willkommene Ablenkung, wie es auch eine Zuflucht ist.

     Seufzend öffnet Eden das Fenster, um die hellbraune Eule hineinzulassen. Sie streicht ihr über das zerzauste Gefieder bevor sie den Brief löst. Verwundert betrachtet sie den Namen des Adressaten, welcher in ordentlicher Handschrift darauf notiert wurde. Sirius Black. Dem kaputten Siegel nach zu urteilen, wurde der Brief schon einmal hastig geöffnet. Eden's helle Augenbrauen scheißen verwundert in die Höhe und sie kommt nicht umher, sich zu wundern, warum Sirius ihr einen Brief sendet, der an ihn adressiert ist. Und zudem schon von ihm gelesen wurde. Zaghaft öffnet Eden ihn ein erneut.

     Sirius,

Dieser Brief wird dich zu spät finden, doch hoffe ich, dass du mir im Tod vergeben kannst, wie du es im Leben nicht hättest tun können.
Bitte sag Eden, dass es mir leid tut, ihr nicht geschrieben zu haben. Mehr, als ich mir je hätte vorstellen können. Aber ich habe es nicht über's Herz gebracht. Denn wie sagt man jemandem, den man liebt, dass man stirbt? Und ich liebe sie, so, wie ich weiß, dass auch du sie liebst. Sie ist das Einzige, das ich richtig gemacht habe in meinem Leben. Ich habe so vieles falsch gemacht und dies sehe ich erst jetzt mit Klarheit.
Ich war geblendet durch Mutter und Vater, doch was für eine Ausrede ist das in Wahrheit? Schließlich hast du es geschafft, dich von ihnen loszureißen.
Ich war so unglaublich wütend, als du uns verließt. Ich konnte nicht begreifen, wie du mich alleine lassen konntest mit ihnen. Es hat lange gedauert, dir diesen Egoismus zu verzeihen, doch habe ich es getan. Denn ich verstehe es nun. Ich habe endlich erkannt, was du schon dein Leben lang wusstest. Dass der Wert eines Mensch nicht davon abhängig ist, wie rein sein Blut ist, und dass es schwierig ist, ein guter Mensch zu sein.
Ich bin kein guter Mensch, das weiß ich mit Gewissheit. Aber vielleicht kann man sein Leben für etwas einlösen, das Frieden nahe kommt. Wenn nicht, dann soll ich umsonst gestorben sein.
Lange Zeit dachte ich, es wäre möglich, dich zu hassen. Auch in diesem Punkt lag ich falsch. Ich könnte dich niemals hassen. Du bist mein Bruder.
Ich lebte lange in Dunkelheit und erst jetzt sehe ich das Licht.

Vergib mir.
               Regulus.

     Manchmal kann Eden sich nicht daran erinnern, dass jemals Zeiten existierten, in denen sie etwas anderes spürte als Schmerz. Er ist dunkel und setzte sich an ihr fest und reißt sie auseinander. An diesem Tag versteht sie, warum es Menschen gibt, die Stille verabscheuen. Durch sie werden ihre eigenen Gedanken lauter und Eden kann ihnen nicht entfliehen.

Eden ließt sich die Worte erneut durch und ein weiteres Mal und je öfter sie es tut, desto schlimmer wird das Gefühl. Sie liegt am Strand und Wellen von Schmerz brechen über sie herein, aber sie kann nicht ertrinken.

     Regulus starb und starb allein.

SIE SEHNT SICH DIE TAGE ZURÜCK, in denen die Dunkelheit sie noch ängstigte. Eden hat gelernt, dass es schlimmere Dinge zu fürchten gibt—Dinge, die dunkler sind als die Nacht.

     Früher hatte Eden sich nicht getraut, nachts auf die Toilette zu gehen, weil sie dachte, im Flur würde ihr jemand auflauern. Sie war sich sicher gewesen, dass dieses Etwas nur darauf wartete, bis sie ihr sicheres Zimmer verließ und dann würde es angreifen. Nachdem sie älter geworden war, hatte sie diese Gedanken augenrollend verworfen und sich selbst als Idiotin abgestempelt. Doch vielleicht hatte sie schon in ihrer Kindheit geahnt, was nun Realität ist—der Tod lauert hinter dem Vorhang, geduldig wartend, um sein nächstes Opfer zu stehlen.

     Eden kann sich nicht daran erinnern, wann genau ihr die Idee gekommen ist, doch sitzt sie bei Sonnenuntergang mit Feder und Pergament an dem Schreibtisch in Lily und James Wohnzimmer. Die Feder zittert in ihrer Hand und es kostet sie viel Mühe, sauber zu schreiben.

     Regulus,

Die Trauer überwiegt der Wut. Ich wünschte es wäre andersherum, denn Trauer ist zwar nicht so schwer zu tragen wie Wut, doch nimmt sie dir mehr. Ich wäre nur allzu gerne wütend auf dich, dass du mich verlassen hast, aber es scheint unmöglich zu sein. Wann immer ich es versuche—und das habe ich schon einige Male, vergib mir—scheitere ich.
Einzig und allein Schmerz überkommt mich, sobald ich an dich denke. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern und meine Erinnerungen an dich lassen mich lächeln. Das hoffe ich. Wie hatten viele schöne Momente, auch wenn sie auf den ersten Blick von schlechteren überschattet werden.
Ich hätte mir gewünscht, dass du mit mir geredet hättest. Möglicherweise hätte es anders enden können. Oder nicht. Man muss für seine Sünden bezahlen und nur du selbst weißt, ob du das im Leben schon getan hast.
Erinnerst du dich an die zahlreichen Briefe, die wir vor nur einigen, wenigen Jahren Woche für Woche ausgetauscht haben? Ich habe sie all die Zeit aufgehoben. Es sind 57. Dies wird der letzte sein. 58 Briefe in zwei Lebzeiten erscheinen mir wie genug.
Dein Name wird für die Ewigkeit schmerzen. Doch gibt es nichts zu vergeben.

     In Liebe,
               Eden.

     Das sterbende, gleißende Licht der untergehenden Sonne lässt die niedergeschriebenen Wörter glühen. Für einen Moment kann Eden sich vorstellen, Frieden zu fühlen. Dann wird das Zimmer in Schatten getaucht.

jenseits von eden, 𝐒𝐈𝐑𝐈𝐔𝐒 𝐁𝐋𝐀𝐂𝐊Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt