• K A P I T E L 4 •

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Das Essen mit Camille und Andrej verläuft besser als erwartet. Das könnte aber auch daran liegen, dass unser Vater nach wenigen Minuten dazu gestoßen ist und die Tischgespräche gekonnt gelenkt hat. Er kennt meine Bedenken, was die Auslese angeht und hat es perfekt vermieden, überhaupt in die Richtung des Themas zu kommen. Er teilt die Ansichten meiner Mutter zwar nicht, aber es würde ihm auch nicht im Traum einfallen, seiner Ehefrau zu widersprechen.

Annalise Morel widerspricht man nicht. Ebenfalls eine Regeln, die ich die meiste Zeit befolge.

Doch nicht einmal mein Vater kann es verhindern, dass die Auslese schließlich zum Gesprächsthema wird. Zwar geschieht dies erst, als wir mit Gebäck und Keksen im Wohnzimmer sitzen, doch ich würde am liebsten sofort zur Toilette rennen und den Rehgulasch wieder ausspucken. Die Auslese ist einfach kein Thema über das ich gern spreche. Besonders nicht dann, wenn ich selbst daran teilnehmen soll.

Ich erinnere mich noch zu gut an die letzte Auslese vor zwei Jahren. Damals wählten der Kronprinz und seine vier Freunde ihre zukünftigen Ehefrauen. Meine Mutter hat meinen Vater und mich jede Woche dazu gezwungen, die Fernsehübertragung anzusehen. Camille hat sich die Wochenzusammenschnitte vermutlich freiwillig angesehen, doch da sie nicht mehr in unserem Elternhaus wohnt, kann ich das eben nur vermuten. Ich fand es schon schrecklich genug zu wissen, dass ich bei der nächsten Auslese teilnehmen müsste und jetzt ist es tatsächlich soweit. Da hilft es auch nicht mir einzureden, dass in ein paar Jahren auch der dritte und letzte Sohn des Königspaares eine Auslese veranstalten würde. Denn ich lebe im hier und jetzt.

Stumm höre ich den Worten meiner Familie zu. Alles dreht sich um die Auslesen und ich muss aufpassen, nicht regelmäßig zusammen zu zucken. Sie unterhalten sich darüber, wie gut mir eine Krone stehen würde und wie gut ich mich im Palast an der Seite des Prinzen machen würde.

Ich verstehe nicht, wie sie so reden können. Sie wissen nicht, wie der Prinz aussieht. Sie wissen es genauso wenig wie ich es weiß. Wie können sie sich mich schon an seiner Seite vorstellen? Vielleicht hat Annalise etwas ins Essen gemischt, als ich nicht hingesehen habe und die beiden anderen Damen in der Runde leiden an Halluzinationen. Das ist zumindest die einzige Erklärung für das Verhalten der beiden, die ich finde.

Ich habe jede Auslese seit Anbeginn der Zeit gesehen. Und das waren wirklich ganz schön viele. Schließlich durchlebten pro Prinz immer 26 Frauen diese Prozedur. Wie auch immer meine Mutter es angestellt hat, sie besitzt alle Aufnahmen von allen jemals abgehaltenen Auslesen. Gemeinsam hat sie die Bänder mit mir und Camille bereits während unserer Kindheitstage angesehen und wir mussten die Teilnehmerinnen analysieren. Warum musste wer die Runde verlassen, wer hat was gut gemacht und ganz wichtig: Warum hat das Mädchen gewonnen, das am Ende die letzte Tiara auf den Kopf gesetzt bekommen hatte.

Einfach alles, was dabei helfen könnte, die Auslese zu gewinnen und den Prinzen zu bekommen, wurde aufgeschrieben und mir als Bettlektüre verordnet. Mittlerweile stapeln sich mehr selbstgeschriebene Heftchen zu den Auslesen als Schulbücher in meinem Regal. Einen Vorteil hatte das Ansehen der vorherigen Auslesen jedoch. Als aufmerksamer Zuschauer kann man deutlich beobachten, wie sich die Auslesen mit jeder Generation veränderten. Hätte ich doch nur vor 500 Jahren gelebt. Damals wusste man von Anfang an, wer der Prinz war. Ich hätte mich auf eine Person konzentrieren können und müsste nicht erst herausfinden, wer überhaupt die Person ist, der ich mich an den Hals werfen soll. Wäre ich doch nur vor 500 Jahren bereits geboren worden, wären meine Eltern vielleicht nicht so versessen darauf gewesen, mich in den Palast zu schicken.

"Und was ist mit dir Isabelle? Freust du dich schon, die jungen Männer kennenzulernen?", richtet Andrej sein Wort an mich. Erschrocken darüber überhaupt angesprochen zu werden, zuckt mein Blick zu meinem Schwager. Dieser beobachtet mich aufmerksam aus seinen dunklen Augen und reibt sich über das glattrasierte Kinn.

Golden DressWo Geschichten leben. Entdecke jetzt