• K A P I T E L 1 •

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Anthrazit, Rauchgrau, Taubengrau, Aschgrau, Silbergrau. Von Dunkel nach Hell und Groß nach Klein reihen sich die Handtaschen von Annalise Morel im Regal auf. Zufrieden mit mir selbst betrachte ich mein Werk einen Moment, bevor ich mich dem nächsten Regal zuwende. Annalise besitzt mehr Taschen als ich Kleidung, mal ganz zu schweigen von ihren Schuhen, die ich jetzt zu ordnen beginne. Sie ist eine Frau, die zweifelsohne das Exotische und Übertriebene liebt - was man nicht zuletzt an ihren Heiligtümern sieht.

Zweifelnd betrachte ich den schwarzen Samtschuh mit rosa Herzabsatz in meiner Hand und stelle ihn kopfschüttelnd neben einen anderen schwarzen Pump. Der Herzchenschuh ist nur einer von vielen besonderen Schuhen. Es gibt noch ein Paar welches mit künstlichem Gras überzogen ist. Und ein Paar, das nur aus schweinchenrosa Spitze besteht. Ein anderes Schuhpaar in babypinkt hat sogar eine vollständig eingegossene Rosenblüte in ihrem Plateau.

Mein persönliches Highlight jedoch ist das Schuhpaar mit zehn Zentimeter hohen Absätzen und einem zusätzlichen fünf Zentimeter Plateau, welches aus den groben Borsten eines alten Besens gefertigt wurde. Als würde Annalise Morel solche Schuhe überhaupt benötigen. Putzen ist in diesem Haus meine Aufgabe, weshalb bestenfalls ich solche Schuhe brauchte um möglichst schnell fertig zu werden. Aber wie bereits erwähnt, liebt Annalise eben das Übertriebene.

Manche würden ihren Stil als merkwürdig oder seltsam bezeichnen, doch sie fühlt sich damit wohl und voller Selbstbewusstsein trägt sie auch die außergewöhnlichste Kreation als würde es sich dabei um ein schlichtes Alltagskleid handeln. Betritt Annalise einen Raum, liegen sofort alle Augen auf ihr. Sie genießt die Aufmerksamkeit in vollen Zügen und manchmal wirkt es auf mich, als bräuchte sie genau dies um zu Überleben. Ich lasse sie in dem Glauben, dass Aufmerksamkeit das höchste Gut ist und erledige still schweigend meine Arbeiten in ihrem Schatten. Solange ich nicht ihr Augenmerk auf mich ziehe, kann ich gut in dieser Welt leben. Denn das Interesse von Annalise Morel auf sich zu ziehen, bedeutet nie etwas Gutes - zumindest nicht in meinem Fall.

"Isabelle!"

Sie ist zu früh. Das ist der erste Gedanke, welcher mir durch den Kopf schießt, als ich die Stimme meiner Mutter höre. Sie wird nicht begeistert sein, dass ich gerade mal mit ihrem Ankleidezimmer fertig bin. Eigentlich hätte ich heute auch noch im gesamten unteren Stock abstauben, den Boden nass wischen und die Gardinen waschen müssen. Meine Mutter wird alles andere als begeistert sein. Da hilft es auch nicht, dass ich all ihre Heiligtümer farblich und in allen Schattierungen sauber ins Regal geräumt habe.

Um sie nicht warten zu lassen, verlasse ich das Ankleidezimmer und schließe die Tür hinter mir. Die Dielen knarren leise, als ich den Flur durchquere und mich beeile, die Treppe nach unten zu kommen. Sie legt gerade ihren Hut inklusive der roten Papageienfeder auf die Ablage neben der Eingangstür und nimmt die schwarze Sonnenbrille von ihrer Nase. Sie trägt eine auffällige kanariengelbe Felljacke und eine grasgrüne enge Hose. Ihre Füße stecken in schwarzen Pumps, welche wenigstens farblich zu ihrem Hut passen. Auch wenn mir die Farben ihren Kleidung in den Augen brennen, so ist diese Outfit noch eines der harmlosen.

"Mom? Du bist früh dran", begrüße ich meine Mutter und bleibe am Fuß der Treppe stehen. Ich werfe einen schnellen Blick an mir herunter, finde jedoch nichts das meinem Auftreten schaden könnte. Kein Fleck auf meiner dunkelblauen Jeans oder dem weißen T-Shirt, das meine Mutter mir gestern heraus gelegt haben. Auch wenn ich noch nie in einer Hose das Haus verlassen habe, so darf ich sie immer tragen wenn ich den ganzen Tag für die Hausarbeit eingeteilt bin. Laut Annalise jedoch nur, um meiner Haut keinen Schaden zuzufügen. "Ich habe nicht vor dem Abendbrot mit dir gerechnet."

Die großgewachsene Frau dreht sich um und ihre moosgrünen Augen treffen auf meine. Ihr Gesicht ist beinahe faltenfrei, was bei ihrem Alter eigentlich sehr verwunderlich ist. Mehrere Besuche bei den qualifiziertesten Chirurgen des Landes haben geholfen, ihr junges Aussehen zu bewahren. Ihre geraden Lippen verziehen sich zu einem strahlenden Lächeln, das im Gegensatz zu sonst sogar ihre Augen erreicht. Nun, da ihr Gesicht einen geradezu freundlichen Ausdruck angenommen hat, zeigen sich die leichten Falten an ihren Augen. Ihr Strahlen flacht nicht wie so oft ab, als sie auf mich zu kommt und ihren Blick dabei über meinen Körper wandern lässt.

Golden DressWo Geschichten leben. Entdecke jetzt