Nam-Re

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Kisara stellte die Frage, ehe sie sich überhaupt darüber im Klaren war, was ihr eine Antwort bedeuten würde. Oft genug hatte sie diese immerhin in Form von angsterfüllten Schreien, weit aufgerissenen Augen und fliehenden Schritten erhalten. Menschen hatten Angst vor Bestien. Das war ganz natürlich, ganz normal. Nur deshalb überlebten sie. Sie wusste das, hatte ja selbst manchmal Angst vor der Bestie, die in ihr schlummerte. Wie könnte sie da eine andere Antwort als 'Ja' erhoffen? Denn genau das tat Kisara, wenn sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, als sie fragte: "Und du fürchtest ihn nicht?" Sein Blick verriet Überraschung, wenn auch nur für einen Augenblick. "Nein." Keine lange Erklärung, keine Begründung, keine noch so ausgefeilte Argumentation hätte sie mehr überzeugen können als Setos knappe Antwort. Nein. Er fürchtete sich nicht. Natürlich nicht. Sie war sein. Der Drache war sein. Die Bestie gehorchte ihrem Meister, ihrem Herren. Wieso also sollte der sich auch fürchten?Ihr Herz raste, ihre Finger bebten. Hatte Seto es bereits gespürt? Fürchtete er sich deshalb nicht vor der weißhaarigen Hexe, um die die Leute sonst einen weiten Bogen schlugen? War ihm bereits unterbewusst klar, dass sie der Weiße Drache war, den er so nonchalant in gemalter Form bei sich trug? So schwer es ihr auch gefallen war, den Blick von der Karte zu reißen, wo wenig vermochte sie jetzt, den Blick von Seto Kaiba abzuwenden, der nur still zurückblickte. Kisara schien es, als könnte er auf den Grund ihrer Seele blicken, direkt dorthin, wo die Bestie wohnte, die so ziemlich jeden Menschen erzittern ließe. Seine Bestie.


Seto vermochte nicht zu sagen, wie viele Augenblicke vergangen waren, doch es war Kisara, der die Stille schließlich durchbrach. "Das ist wundervoll." Er kommentierte das nicht. Offenbar war diese Frau ein wenig seltsam, doch Seto hatte wenig Lust sich damit eingehender zu beschäftigen. "Ich wüsste nicht, welche Rolle das jetzt spielen sollte. Wo finde ich Landkarten und Informationen zu magischen Portalen?" Am liebsten hätte er direkter gefragt, doch irgendwie schwante ihm, dass nach Technologie zu fragen, hier wenig Sinn hätte. Obendrein konnte er sich nicht vorstellen, dass Zeitreisen oder gar etwas wie molekulare Auflösung oder auch nur die Realivitätstheorie hier auf Verständnis stoßen würden. Diese ganze Gegend wirkte, als hinge sie auf einem technologischen Stand, der der Antike entsprach, wenn überhaupt."Bitte folge mir. Ich führe dich in den Kartensaal", ereiferte sich die weißhaarige Frau sofort.


"Aber... magische Portale?" Seto hätte am liebsten geseufzt. Hätte er doch nur nichts gesagt, aber eine der Zeit angemessenere Erklärung hatte er noch nicht und noch weniger Zeit und Lust eine solche zu geben, wenn er sie denn fand. Es musste schlicht und ergreifend eine logische Lösung für sein Hiersein geben und damit auch einen Weg zurück. Alles, was er also tun musste, war diesen Leuten hier zu vermitteln, wonach sie suchen müssten, wenn sie ihm helfen sollten.

"Ich weiß leider nicht viel über Magie. Damit werden wir auf Seto warten müssen." Das hatte Seto Kaiba befürchtet. Er nickte nur und folgte Kisara in den Kartensaal, der sich im wahrsten Sinne des Wortes als solcher entpuppte. Die Karten waren nämlich an die Wände gemalt und nur an einer Wand standen zahlreiche Regale, die vor Papyrusrollen nur so überquollen. Hier würde er niemals irgendetwas finden, das ihm half, das wurde Seto sofort klar. Doch zumindest konnte er sich einen Überblick über Ägypten verschaffen. Denn auch wenn hier nach seinem Empfinden jeder Japanisch sprach, war er doch absolut sicher, nicht in Japan zu sein. Seine Zeitreise musste eine Art Multilingualismus mit sich gebracht haben. Praktisch, denn ohne wäre er auch aufgeschmissen.


Nachdenklich trat er an eine der Wände heran. Sie zeigte die Stadt nebst Umgebung. Die kleine unterirdische Kammer, in der er zu sich gekommen war, als er hier ankam, müsste also erfasst sein, denn Seto war nicht lange durch die heißen Dünen gestapft. In jedem Fall fehlte in dieser Zeit die Steintafel, die er sich angesehen hatte, als ihn ein helles Licht hierher befördert hatte. Womöglich müsste er diese Tafel in dieser Epoche finden, soweit sie denn überhaupt schon existierte - und das machte ihm Sorgen. Zumindest ein wenig, denn nötigenfalls war Seto entschlossen, eben selbst dafür zu sorgen, dass sie entstand.

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