Meine Schwester

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Sie erkannte mich nicht. Ihre wasserstoffblonden Haare waren zu einem hohen Dutt gebunden und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.

Sie sah alt aus, viel älter als sie tatsächlich war.

Ich saß ganz allein vorn in der Ecke. Ich hatte so sehr gehofft, dass sie mich erkennen würde. Dass wenigstens irgendeine Emotion in ihr Gesicht treten würde.

Aber als Lu jetzt vor mir stand und mich nach meiner Bestellung fragte, verzog sie keine Miene.

»Du erkennst mich nicht.«, stellte ich laut fest und es klang vorwurfsvoller, als ich es beabsichtigt hatte.

Sie schien einen Moment zu überlegen. Unschlüssig drehte sie den Kugelschreiber in ihrer Hand.

»Bö?«, fragte sie schließlich vorsichtig und ihr stand das schlechte Gewissen quer übers Gesicht geschrieben. Ich schnaubte.

»Ja.«

Ich wartete auf eine Antwort, aber die kam nicht.

»Deine Bestellung?«, fragte sie und lies ihren Blick über den Tisch vor mir schweifen.

»Mehr hast du nach all den Jahren nicht zu sagen?«

Und wieder folgte grausame Stille. Es war mittlerweile schon spät am Nachmittag und das Café hatte sich rasend gefüllt.

»Ich habe in einer halben Stunde Feierabend. Dann können wir reden. Kannst du so lang warten?«, flüsterte sie und ich nickte. Ich bestellte mir noch einen Kaffee in der Hoffnung, dass er mich wach halten und ich nicht auf dem Tisch einnicken würde.

»Ich wär soweit.«, verkündete Lu, die eben an meinen Tisch getreten war. Sie sah erschöpft und müde aus, so als hätte sie tagelang nicht geschlafen.

»Hör zu. Eigentlich habe ich mir geschworen nichts mehr mit dir zu tun zu haben. Nach allem was du Dad und mir angetan hast.«, platzte es aus mir heraus.

»Ich weiß, ich habe es nicht anders verdient.«

Das war das erste Mal, dass meine Schwester so etwas wie Reue zeigte und ich war ehrlich überrascht darüber.

Mit fester Stimme fügte sie hinzu: »Mein Leben ist wahrlich nicht gut gelaufen und daran bin ich ganz allein schuld.«

Ich zögerte. Vor mir stand ein anderer Mensch. Ich kannte Lu nicht mehr. Sie war nicht mehr der aufmüpfige Teenager, der sie noch vor fünf Jahren gewesen war.

»Dad liegt im Krankenhaus.«, sagte ich und starrte gedankenverloren den Stuhl mir gegenüber an. Lu setzte sich darauf und atmete geräuschvoll aus. »Ich dachte das solltest du vielleicht wissen.«

Sie stützte ihren Kopf auf ihrer linken Hand ab und senkte ihren Blick.

»Was ist... Ich meine, was hat er?«

»Er hatte einen Herzinfarkt. Während der Arbeit.«

Die Erinnerung an den Anruf aus dem Krankenhaus kroch wie Nebel in mein Gehirn und spulte sich immer und immer wieder ab. Ich hatte die mechanische noch heute im Ohr. Dad war alles an Familie gewesen, was ich noch gehabt hatte. Das Leben hatte mir zuerst meine Mutter entrissen und dann meine Schwester genommen.

»Wird er wieder gesund?«, wollte Lu leise wissen.

Ich räusperte mich. Bisher hatte ich mit noch niemandem darüber geredet, noch nicht einmal mit meiner besten Freundin Chloé.

»Die Ärzte sagen ja. Er muss noch einige Wochen in Kur, aber er wird wieder. Zum Glück war gerade ein Klient bei ihm, sodass direkt Hilfe gerufen wurde.«

»Gott sei Dank!«, stieß Lu aus und fuhr sich mit ihrer Hand durchs Gesicht.

By My SideWhere stories live. Discover now