Zehn Jahre später

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Ich war nervös. Sehr nervös. Ich hatte meine Schwester seit fünf Jahren nicht mehr gesehen und eigentlich war ich mir sicher, dass sie mich gar nicht sehen wollte. Aber ich konnte nicht anders.

Dad lag im Krankenhaus und das musste Lu einfach erfahren.

Ich hatte keine Handynummer oder ähnliches, nur die Adresse, die ich über ein paar Umwege bekommen hatte.

Ich atmete tief durch und drückte die Klingel.

Als nach einer Weile immer noch niemand die Tür geöffnet hatte, klingelte ich nochmal.

Dann endlich wurde die Tür aufgemacht, doch es war nicht etwa meine Schwester, die mir die Tür öffnete, sondern ein Typ, der etwa in meinem Alter war.

»Was gibt's?«, fragte er unbeeindruckt. Seine braunen Haare waren zerzaust und seine flussgrünen Augen schauten merkwürdig durch mich hindurch. Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber mir wollte beim besten Willen nicht einfallen, wo ich ihn schon mal gesehen hatte.

»Ich suche meine Schwester. Lu Blake.«, murmelte ich eingeschüchtert.

Die Augen meines Gegenübers blitzen amüsiert auf. »Lu? Du meinst bestimmt unsere Vormieterin. Die ist vor ein paar Monaten aus der Wohnung hier geflogen.«

Diese Nachricht war wie ein Schlag ins Gesicht für mich. Unsicher betrachtete ich meine Fußspitzen.

»Weißt du wo sie jetzt ist?«, fragte ich und ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit.

»Was krieg ich wenn ich's dir verrate?«, wollte er mit einem anzüglichen Grinsen wissen. Mir war, als würde er einen kleinen Schritt auf mich zumachen und ich zuckte zurück.

»Was willst du?«, ich versuchte meine Stimme taff klingen zu lassen, was mir bei seinem intensiven Blick absolut nicht leicht viel.

»Ich weiß nicht. Ein Date? Das wär doch was oder Bö?«

Als er meinen Namen sagte lief mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Woher kannte er meinen Namen? Wusste er, dass Lu meine Schwester war?

»Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Du erkennst mich nicht?«, fragte er gespielt geschockt, bevor sein Grinsen noch breiter wurde. »Lass mich dir auf die Sprünge helfen: Vierte Klasse, wir beide unter der alten Eiche.«

»Ach du scheiße!«, entfuhr es mir.

Vor mir stand Jake Leech. Der Jake Leech, der mich unter der alten Eiche damals küsste, bevor er mich ausgelacht und bloßgestellt hatte. Ich war damals unfassbar verknallt in ihn gewesen und er hatte mich sehr verletzt.

»Ah, du erinnerst dich also doch an mich.«, seine wunderschönen Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen Lachen. »Du hast dich ganz schön verändert.«, wisperte ich und versuchte irgendwelche Gemeinsamkeiten mit dem Jake von damals zu finden. Er war groß geworden und unter seinem schwarzen Shirt zeichneten sich Muskeln ab. Seine Haare waren einige Farbnuancen dunkler als früher und seine Augen irgendwie... noch hypnotisierender. Schon damals war er der Mädchenschwarm schlechthin gewesen und ich bezweifelte, dass sich das geändert hatte.

»Du warst damals echt ein Arsch.«, sprach ich meine Gedanken laut aus. Und wahrscheinlich war er das auch immer noch. Sein unmoralisches Angebot bewies das ja nur. Er ging nicht auf meine Bemerkung ein. Stattdessen sagte er: »Also: Ja oder nein?«

Ich brauchte einen Moment bis ich wusste, dass er sein lächerliches Angebot meinte.

»Du willst doch gar nicht auf ein Date mit mir gehen.«, zischte ich und starrte in seine Augen.

»Naja, sagen wir es so: Mir gefällt der Gedanke, dass du dein erstes Date mit mir verbringst.«

Woher zum Teufel wusste er das? Langsam versuchte ich ruhig zu bleiben. Bloß nichts anmerken lassen.

»Wer sagt, dass ich noch kein Date hatte?«

Jake grinste wieder sein dämliches Grinsen, bevor er antwortete. »Instinkt, Bö, Instinkt.«

»Instinkt?«, sagte ich mit hochgezogener Augenbraue. Als er nicht antwortet, seufzte ich. »Okay gut. Wo ist sie?«

Jetzt sah er überrascht aus. So als hätte er fest damit gerechnet, dass ich absagte oder zumindest ein wenig mit ihm diskutierte. Aber um ehrlich zu sein war ich viel zu müde und viel zu ausgelaugt, um zu protestieren. Ich musste einfach meine Schwester finden.

»Schön. Gib mir zuerst deine Nummer.«

Ich zögerte nicht. Ich wollte nur endlich zu Lu und dann zu Dad. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und das machte sich jetzt bemerkbar.

»Ich weiß nicht wo sie jetzt wohnt.«, sagte er mit fester Stimme und als ich schon protestieren wollte, fügte er hinzu: »Aber sie arbeitet am Messplatz im Café neben der Eisdiele.«

Erleichterung machte sich in mir breit. Immerhin ein Anhaltspunkt, auch wenn ich mir meine Schwester nicht als Bedienung in einem Café vorstellen konnte.

Ich murmelte ein »Danke.« und drehte mich um. »Ich schreib dir, Babe.«, rief er mir hinterher und ich war ziemlich sicher, dass er grinste.

»Arsch.«, brummte ich.

»Das habe ich gehört!«

By My SideWhere stories live. Discover now