Sarabande

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Nachdem was Milo bisher von Sutcliffe kennengelernt hatte, konnte er sich schon von Anfang an denken, dass sein Psychiater zu der Sorte von gelehrten Menschen gehörte, die jeden Tag kochten und Abends beim Lesen eines Buches Wein tranken. Wenn man so eine Art Mensch war, dann musste man sich doch einfach durchgängig, wie in einem Film von Christopher Nolan fühlen: furchtbar schick. Manchmal fragte sich Milo, ob sich diese ach so tiefgründigen Menschen nicht selbst seltsam vorkamen, wenn sie allein in ihren Vintage-Wohnzimmern saßen, ein Buch von John Green lasen und am besten noch Merlot tranken.
Milo hatte Sutcliffe von der ersten Minute an genau so eingeschätzt, ein versnobter Professor. Es war äußerst selten, dass der Amateurdetektiv mit der Einschätzung seiner Mitmenschen mal danebenlag, genauergenommen kam es noch nie vor. Vielleicht war Sutcliffe wirklich einer dieser modern-smarten Leute, ganz sicher war er das, doch mittlerweile fiel es Milo schwer sich das einzugestehen. Eigentlich wollte er nämlich rein gar nichts mit solchen Menschen am Hut haben. Menschen, die entweder jede freie Minute damit verbrachten, darüber nachzudenken, wie sie auf andere wirkten oder sich eben gar nicht darum scherten und mit Scheuklappen durch ihr Leben rannten. Ganz vielleicht wollte er auch einfach nichts mit solchen Leuten zu tun haben, weil sie ihr Leben im Griff hatten. Ganz im Gegensatz zu ihm.

„Warum nochmal genau haben Sie eine eigene Gefrierkammer? Ist Ihnen ein normaler Gefrierschrank zu langweilig?", wollte Milo wissen, als Sutcliffe gerade wieder in die Küche schritt. In der rechten Hand hielt er einen halben Lachs an der Flosse, der genau in der Mitte sauber geteilt wurde.
„Darum", entgegnete der Größere und hielt symbolisch den Fisch nach oben. „Ich fange und erlege jedes Tier, das ich esse selbst. Das ist das Mindeste. Ich würde auch gerne Gemüse anbauen, doch die Miete für einen Garten im Zentrum Londons habe ich leider nicht."
„Sie wissen doch hoffentlich selbst wie unglaublich lächerlich das klingt, oder?", entgegnete Milo und wischte sich mit den Händen über die Augen, die vom Zwiebel schneiden schon tränenverschmiert waren. Sutcliffe hatte inzwischen den gefrorenen Fisch zum Auftauen in den Ofen geschoben und schritt nun auf den Kleineren zu.
„Und Sie wissen doch hoffentlich wie lächerlich es aussieht, dass sie beim Zwiebeln schneiden weinen? Sie stehen wohl nicht sehr oft am Herd."
Milo zog ein sarkastisches Grinsen und reichte dem Anderen das Messer.
„Jetzt kommen Sie sich bestimmt schrecklich schlagfertig vor."
Sutcliffe zwinkerte seinem Patienten bloß bedeutend zu und würfelte anschließend das Gemüse perfekt, danach holte er den halbaufgetauten Fisch aus dem Ofen und griff nach einem langen, biegsamen Messer mit welchem er den Fisch schräg nach unten in kleine Scheiben schnitt. Milo lehnte währenddessen an dem Küchentisch. Jetzt wo er das erste Mal seit mehreren Tagen Ruhe um sich hatte, machte sich die Müdigkeit bei ihm bemerkbar. Er schlief immer nur sehr kurz, da er stets von irgendwelchen Träumen beherrscht wurde, doch über die Jahre hatte er gelernt, wie man die Erschöpfung erfolgreich ausblenden konnte. Nur jetzt gelang ihm dies aus irgendeinem Grund nicht. Eventuell lag es an der unglaublichen Ruhe, die Sutcliffe ausstrahlte, oder an dem gedämpften Licht, was von den schwarzen Pendelleuchten alles in einen gemütlichen, warmen Ton tauchte, oder an der leisen Musik von Claude Debussy, welche im Hintergrund spielte, oder vielleicht lag es auch einfach daran, dass Milo zum ersten Mal seit vielen Tagen richtig abschalten konnte.

Sutcliffe präparierte immer noch den Fisch, doch kam nicht ohnehin zu bemerken, dass der Kopf seines Patienten immer mehr nach rechts kippte und sich schließlich an der Schulter ablegte. Die zusammengesackte Haltung Milos, während er immer noch an dem Tisch lehnte, sah alles andere als bequem aus, aber anscheinend reichte es aus um den Jüngeren gründlich ins Land der Träume zu befördern. Sutcliffe entschloss sich dazu den Anderen schlafen zu lassen und machte sich währenddessen daran das Gericht zu beenden. Doch während die Nudeln, zusammen mit dem Fisch vor sich hin garten, beobachtete der Psychiater den Kleineren ausgiebig und stellte fest, dass Milo nicht mehr so ruhig aussah, wie vor einigen Minuten. Der Ausdruck auf seinem Gesicht sah hart aus. Er hatte die Brauen zusammen gezogen und seine Lippen, waren zu einem schmalen Strich aufeinander gepresst. Der Größere wollte gerade eingreifen, da zuckte Milo zusammen und war mit einem Schlag wieder wach. Jedenfalls dachte Sutcliffe, dass der Spuck jetzt vorbei war.
„Nicht gut geschlafen? Das war sicher Ihr schlechtes Gewissen, weil Sie mir nicht weiter geholfen haben.", scherzte er amüsiert. Doch als er den noch immer starren Blick des Amateurdetektivs sah, der direkt durch ihn durch ging, sanken seine Mundwinkel langsam und er warf das Handtuch lieblos neben die Spüle, ehe er auf den Anderen zuschritt. Milos Hände begannen langsam zu zittern, erst zuckten bloß einzelne Finger, doch schon bald verkrampfte sich das gesamte Handgelenk. Der studierende Blick Sutcliffes wanderte nach oben, die Augen des Jüngeren waren gläsern und zuckten kindlich hin und her, als würde er einem Hasen im Zick-Zack-Lauf zusehen.
‚Schizotypischer Anfall', hallte es sofort in dem analysierenden Verstand Sutcliffes. Eine Wahnvorstellung, er musste seinen Patienten sofort zurück bringen.

Mit über Jahre angelernte Ruhe und studierter Vorgehensweise berührte der Psychiater vorsichtig die Schultern des Anderen. Als er merkte, dass Milo nicht zurück zuckte, wanderte er mit den Händen an den Armen nach unten, bis er die zitternden Hände seines Patienten zufassen bekam, die er in seinen sanft zusammendrückte, um das Zucken zu unterdrücken.
„Chester, hören Sie auf mich.", sagte der Größere mit tiefer, ruhiger Stimme, die das Äquivalent zu einem Felsen im stürmischen Meer hätte sein können. Sutcliffe wartete geduldig bis die Augen seines Gegenübers sich auf ihn richteten. „So ist es richtig. Konzentrieren Sie sich auf mich. Auf meine Stimme.", er ließ eine Hand des Anderen los, um seine eigene vor den Augen Milos langsam hin und her zu bewegen. „Sehen Sie nur mich an. Hören Sie nur auf mich. Ich bin das einzige Reale hier. Ich bin echt."
Langsam vererbte das Zucken der Hände und der verängstigte Ausdruck auf dem Gesicht des Anderen entkrampfte sich.
Als sich Sutcliffe ganz sicher war, dass sein Patient zurück war, ließ er ihn los und wich zurück. Peinlich berührt richtete Milo sich auf und räusperte sich rau.

Sutcliffe lehnte an der Küchenarmatur und beobachtete seinen Patienten, welcher ausdauernd dem Blick des Anderen auswich, aus wachsamen Augen. Schließlich brach der Größere die Stille: „Sprechen wir über Wahnvorstellungen."
Milo sah auf, in seinem Gesicht spiegelte sich Empörung wieder. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, wir haben keine Sitzung!"
„Das ist sehr wohl der richtige Zeitpunkt, oder wollen Sie das von eben lieber tot schweigen?", verkündete Sutcliffe mit ruhiger Stimme.
Milo öffnete den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Er war zu erschöpft um Sutcliffe irgendwelche Gegenargumente an den Kopf zu schleudern, die er eh parieren würde. Also verschränkte er stur die Arme vor der Brust und nickte auffordernd.
„Ein alter chinesischer Prophet schlief eines Tages ein und träumte er sei ein Schmetterling. Stundenlang flatterte er in der warmen Wintersonne umher, bis er sich nicht mehr daran erinnerte, dass er Shuang Sho war. Plötzlich erwachte er und war wieder Shuang Sho. Aber in diesem Moment wusste er nicht: War er Shuang Sho, der nur geträumt hatte, dass er ein Schmetterling war, oder war er der Schmetterling, der träumte, dass er Shuang Sho sei?"
Sutcliffe lehnte sich zurück und musterte seinen Gegenüber scharf, dann griff er hinter sich und hielt zwei Hühnereier in der Hand.
„Eine Wahnvorstellung fängt wie jeder andere Gedanke an: Wie ein Ei. Von außen identisch, die perfekte Form. Über die Schale könnte man nie sagen, dass irgendetwas nicht stimmt.", langsam drehte er die beiden Eier in den Händen, ehe er sie über die Spüle hielt.
„Doch wichtig ist, was drinnen steckt." Sutcliffe drückte zu und leise knackend brachen die Schalen. Milo erkannte das leicht grüne Eigelb des rechten Eis. Ein Ei war verfault, ein Ei war frisch gewesen. Sutcliffe wusch sich die Hände und fuhr fort.
„Albert A. hatte eine fixe Idee. Eines Tages stolperte er über den Bordstein. Und einen Moment glaubte er, dass sein rechtes Bein nicht ihm gehöre. So fängt es an. Das Bein war natürlich Alberts Bein. Es war mit seinem Körper verbunden und wenn er es kniff, spürte er den Schmerz. Aber trotzdem wuchs in ihm diese fixe Idee. Das ist die Macht einer Idee. Mit jedem Tag war Albert mehr und mehr davon überzeugt, dass es nicht sein Bein war. Er beschloss, dass er es nicht mehr länger wollte und ging eines Tages zum Baumarkt."
Kopfschüttelnd unterbrach Milo seinen Psychiater. „Was hat das alles mit mir zu tun? Was wollen Sie mir denn damit sagen?"
„Es liegt an Ihnen das herauszufinden.", entgegnete Sutcliffe achselzuckend. Der Kiefer des Jüngeren zuckte, im Versuch von Milo sich zurück zu halten. „Wollen Sie mich veraschen?"
„Sie haben doch selbst gesagt, dass wir keine Sitzung haben, oder? Wissen Sie eine Idee allein ist nicht genug. Wir haben die ganze Zeit Ideen. Zufällige Gedanken und Theorien. Die meisten sterben, bevor sie wachsen können. Damit eine Wahnvorstellung gedeiht und wächst, müssen andere vernünftige Ideen zurückgewiesen und zerstört werden. Nur dann kann eine Wahnvorstellung aufblühen."
Milo blickte seinen Psychiater mit blassem Gesicht an.

„Zu einer ausgewachsenen Psychose."

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