La Follia

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Bei dem vierten Opfer des Maskenmörders handelte es sich um den Polizisten Elias Traitman. Der gebürtige Texaner lebte seit seinem sechsten Lebensjahr in London und war bekennender Redneck. Traitman soll einer jener Polizisten gewesen sein, der auf der Straße dafür gefürchtet war, seine Macht grundlos auszunutzen. Besonders gegen die schwarze Bevölkerung Londons. So stand Traitman bereits 2013 vor Gericht um sich für den Tod eines Kameruners zu rechtfertigen, allerdings schwor er dabei, dass es sich um Notwehr gehandelt hatte. Doch ähnliche Vorfälle, bei denen andere Zeugen berichteten, dass Traitman sehr wohl zu früh zur Waffe griff, ließen darauf schließen, dass Taio Iweala auf gar keinen Fall seinen Tod verdient hatte. Freunde und Familie setzten sich für den Verstorbenen noch immer ein, führten Demonstrationen durch, man sollte Traitman hinter Gitter setzen. Taio Iweala sei friedliebend gewesen und würde nie einen Beamten angreifen, argumentierte man, doch vor Gericht stand das Wort eines angesehenen Polizisten gegen das einer Gruppe von Minderheiten. Von Gerechtigkeit ließ sich da nicht mehr sprechen, denn das Verfahren wurde ohne weiteres fallen gelassen. Nun hatte man pünktlich zu Taio Iwealas fünften Todestages die Leiche seines Mörders, wenn man ihn so nennen wollte, gefunden. Oder zumindest das, was von Traitman übrig war. Seinen Schädel. Der Maskenmörder hatte diesmal ein anderes Verfahren angewandt. Die Maske war keineswegs so gefertigt wurden, wie ihre Vorgänger. Lewis und das Peddrok Ehepaar waren beinahe identisch verarbeitet, ihre Schädeldecke war sauber abgearbeitet und geschleift und ihre Augen und Haut perfekt konserviert. Man hätte sie ohne weiteres für eine reale Theatermaske halten können. Doch Traitman hatte nichts mehr von der sonst so mystischen, künstlerischen Genauigkeit des Maskenmörders. Es schien fast so, als hätte der Künstler seinen Verstand verloren. Mühsam musste sich Milo dabei ins Gedächtnis rufen, dass es sich immer noch um einen Mörder handelte und nicht um einen Künstler. Vermutlich hatte er deshalb auch gar nicht erst jetzt den Verstand verloren. Wer seine Opfer zu Masken verarbeitet, muss schon von Anfang an nicht wirklich etwas wie einen Verstand besessen haben. Jedenfalls keinen der der Norm entsprach. Milo konnte beim besten Willen nicht sagen, ob das gut oder schlecht war.
Die Maske, die aus Traitman gefertigt worden war, hatte nichts künstlerisch Schönes mehr an sich. Jones ließ die Computermaus mit einer kurzen Handbewegung über den Bildschirm fliegen und zeigte dem versammelten Team Scotland Yards nun die Nahaufnahmen. Vereinzelt hüstelte jemand oder schluckte schwer, doch insgesamt hatte sich eine Totenstille über den Versammlungsraum gelegt.
Traitmans Kopf war – bis auf die Haare, die man bis zum letzten Stoppel fein abrasiert hatte – noch völlig intakt. Jedenfalls von außen. Jones zeigte gerade eine Nahaufnahme vom Hinterkopf des Mannes, nun konnte man das etwa Faustgroße Loch im Schädel des Beamten erkennen. Der Schädel war perfekt erhalten und sogar von innen abgeschliffen. In einer nächsten Aufnahme, in der man den Kopf nach innen hin beleuchtet hatte, konnte man erkennen, dass das Gehirn fehlte. Sowohl die dura mater, die sinus durae matris, die Arachnoidea, als auch der Subarachnoidealraum waren perfekt abgetragen. Dahinter hätte sich eigentlich das Gehirn selbst befinden müssen, aber davon war keine Spur. Der einzige Anhaltspunkt, dass es jemals in diesem Schädel existiert hatte, waren die letzten Überbleibsel des Hirnstammes, welcher einst das Gehirn mit dem verlängerten Rückenmark verbunden hatte.
Milo hätte es nicht einmal sehr gewundert, wenn Traitman ohne Gehirn geboren worden war, aufgrund der Aktionen, die er sich bisher geleistet hatte, stand ihm dieser hirnlose Look wirklich gut. Der Privatdetektiv konnte Menschen mit Vorurteilen einfach nicht ausstehen. Es viel ihm daher wirklich schwer Mitgefühl für den ermordeten Polizisten aufzubringen.

Ein weiterer Unterschied zu den bisherigen Masken lag in den Augen. Sowohl bei Lewis, als auch bei den Peddroks waren die Augen perfekt konserviert und mit einer Schicht von Formalin umgeben, was ihren einst menschlichen Glanz erhalten hatte. Doch bei Traitman fehlten neben dem Gehirn auch die Augen, die Nase, die Zunge und die Ohren. Die Augenhöhlen waren sauber ausgeschliffen worden, ebenso die Nasenmuschel und der Ohrknorpel. Die Maske, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, wirkte furchtbar entstellt, doch gleichzeitig auch unmenschlich und künstlich, durch die fachmännische Art und Weise, wie professionell die äußeren Organe entfernt worden waren. Jones zeigte gerade eine Nahaufnahme vom zugenähten Mund des vierzigjährigen Mannes und anschließend eine Aufnahme der zungenlosen Mundhöhle. Mittlerweile waren bereits einige Mitarbeiter Scotland Yards aus dem Versammlungsraum geeilt, besonders von den teilweise noch jungen und unqualifizierten Praktikanten fehlte jede Spur. Milos Blick wanderte zu der mit Plexiglas ausgestatteten rechten Wand, durch welche man eine gute Sicht auf die versammelte Praktikantenschaft hatte. Zwei junge Frauen, die Milo etwa auf sein eigenes Alter schätzte, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten leise miteinander. Die Kleinere hatte die Arme so eng um den eigenen Körper geschlungen und fröstelte so stark, dass man hätte  meinen können, sie befände sich mitten in der Antarktis, die Andere wirkte dagegen so blass wie Pergamentpapier. Ungefähr zwei Meter entfernt stand ein blauhaariger, junger Mann, der so gut wie möglich versuchte seine Fassung zu bewahren, das erkannte Milo daran, dass er lautlos vor sich hin murmelte, nach der Bewegung seiner Lippen zu urteilen zählte er die Sekunden. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig und sein gesamter Oberkörper schien völlig entspannt, doch in seinem rechten Bein zeigte sich starkes Muskelzittern, welches eindeutig stressbedingt war. Etwas weiter erahnte man die Silhouette des letzten Praktikanten, welcher im Schatten des unbeleuchteten Teils des Flurs über einen Mülleimer lehnte. Die Menschen konnten vieles ertragen, aber Milo hatte keine Ahnung, wie viel von einem Menschen noch übrig blieb, wenn die Welt ihn in eine völlig andere Form zwang. Seit wann waren alle in diesem Raum so abgestumpft? Warum hingen sie nicht allesamt über diesen Mülleimer? War das nicht die einzig richtige Reaktion auf solche Bilder?

Milos Blick wanderte zurück in den Versammlungsraum und schweifte langsam über die Gesichter der Anwesenden. Jones, die immer noch standhaft ihren Vortrag hielt, wirkte gefasst, doch Milo kannte sie lange genug um zu wissen, wie nah ihr die gesamte Sache eigentlich ging. Sie hatte schon immer zu viel Mitleid für jedes Wesen auf diesem Planeten übrig gehabt, dennoch versuchte sie sich stets so kalt wie Eis zu geben. Doch Milo durchschaute dieses Spiel. Er sah wie ihr rechtes Augenlid beim Anblick jeder neuen Aufnahme kaum merklich zuckte und wie nervös sie mit ihrem Kaffeebecher spielte und dem Etikett kleine Stücke entriss. Aber ihre Stimme zitterte nicht im Geringsten. Er beneidete sie. Als Jones seinen Blick bemerkte, nickte er ihr aufmunternd zu, woraufhin sich ihre Mundwinkel ein wenig hoben. Weddington dagegen, der neben dem Rednerpult auf dem einzigen gepolsterten Stuhl im Raum saß, wirkte wie die Ruhe selbst. Kein Wunder, dachte Milo, dieser Mann hatte einfach schon zu viel gesehen. Weddington war allerdings nicht wie Eis, er war eher wie eine beständige Feuerwalze, deren einziges Ziel darin bestand, alles Böse auf ihrem Weg zu vernichten. Der Kopf Scotland Yards war über die Jahre nicht abgestumpft, die Arbeit hatte ihn vielmehr wie Ton geformt. Vor zwei Jahren, als Milo gerade bei Scotland Yard angefangen hatte, hatte Weddington ihn immer an das typische Bild eines Einkaufhallen-Weihnachtsmannes erinnert. Schrecklich herzlich und mit einem übertrieben großen Beschützerinstinkt bewaffnet...und einer scharfen Waffe. Green saß in der ersten Reihe und allein sein dümmlicher Ausdruck ließ ihn mit dem hirnlosen Opfer auf der Leinwand, wie in einem dieser ‚Suche den Unterschied'-Kinderbücher wirken. Schnell wendete Milo den Blick ab und landete schließlich bei Raymond. Der Psychiater hatte irgendwann im Laufe des Vortrags aufgegeben Milos Aufmerksamkeit zu bekommen und verfolgte nun Jones Ausführungen. Er wirkte völlig...leer. Ein ungutes Gefühl überkam Milo und er spürte wie eine Gänsehaut ihn beschlich, als ein kleiner Gedanke in ihm wie ein Funke plötzlich Feuer fing. Eine kleine Erinnerung flog durch Milos Kopf und bekam nun mehr Gewicht als alles andere. Vor wenigen Minuten hatte Raymond irgendeine Nachricht bekommen und seine gesamten Gesichtszüge waren ihm beim Lesen der selbigen entglitten. Milo hatte sich nicht viel daraus gemacht, schließlich versuchte er sauer auf den Anderen zu sein. Mit mäßigem Erfolg...
Raymond musste seinen Blick gemerkt haben, denn er wendete den Kopf um Milo ebenfalls anzusehen. Seine linke Augenbraue hob sich fragend und wenige Sekunden später, als hätte er Milo wie ein offenes Buch gelesen, sah er plötzlich vollkommen traurig aus. Milo schluckte schwer. Er war sich nicht sicher, was er in dem Anderen sah. Viel zu viele Emotionen huschten in den dunklen Augen seines Gegenübers umher. Der Privatdetektiv erkannte Bedauern, Trauer, Reue, aber auch Mitgefühl, Anteilnahme und...Schuld. Milos Augenbrauen zogen sich in stummer Verwunderung zusammen und als hätte er eine unausgesprochene Frage gestellt, schüttelte Raymond wenige Sekunden später den Kopf und Milo verstand. Es war als hätten sie über die Zeit eine eigene Sprache entwickelt, als hätten ihre Herzen sich auf dieselbe Frequenz eingestellt, sodass sie jetzt ganz ohne Worte kommunizieren konnten. Raymond hatte den Kopf gesenkt und einige wenige Strähnen, seiner zurückgegelten Haare lösten sich und fielen ihm vor die Augen. Er wirkte auf einmal um Jahre verjüngt. Nun geling es Milo überhaupt nicht mehr in irgendeiner Form sauer auf den Anderen zu sein. Sorge war der Wut gewichen. Irgendetwas war passiert. Raymond hob den Blick wieder an. Jetzt erkannte Milo erst wie glasig seine Augen waren. Der Psychiater erhob sich und verließ ohne weitere Worte fluchtartig den Raum.

Verdattert ließ sich Milo gegen die Lehne seines Klappstuhls fallen und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war.  Geistesabwesend starrte er vor sich hin, dann fiel er einen Entschluss, richtete sich auf und eilte dem Größeren nach.

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Hallo ihr Lieben! Wir haben lange nicht mehr gequatscht. :D Zu allererst muss ich euch mal wieder ein großes Dankeschön aussprechen! Ihr habt nämlich dafür gesorgt, dass ‚Geistesblitz.' jetzt schon 28K Reads und über 3K Votes gesammelt hat. Ich freue mich riesig, über euren guten Zuspruch.

Allerdings lese ich immer mehr Kommentare, die dieses Buch mit Sherlock oder Hannibal vergleichen. Das finde ich schade. Das hier ist bei Weitem kein Abklatsch oder gar eine FanFiction. Ich habe unabhängige Charaktere mit eigenen Wertansichten, eigener Problematik und verästelten Figurenkonstellationen erstellt. Natürlich gibt es Parallelen. Ich habe mir nun mal Scotland Yard und einen Psychiater ausgesucht. Aber dennoch finde ich es traurig, wenn ich lesen muss, dass es wie Serie ‚x-y' oder Buch ‚so und so' ist. Das macht einen als Autor einfach traurig.

Das hier ist ein völlig kostenlos zur Verfügung gestelltes Buch. Natürlich ist es bei Weitem nicht fehlerfrei und natürlich lasse ich mich inspirieren, aber das heißt doch noch lange nicht, dass die Story ein Abklatsch ist. :(

Geistesblitz.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt