Valse Sentimentale

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Die blonde Praktikantin zuckte in sich zusammen, als jemand von hinten nach ihr langte und sie am Oberarm zu fassen bekam. Grace Ward wirbelte vollkommen verwirrt herum. In ihrem Gesicht zeichnete sich eins ganz deutlich ab: Schuld.
„Ich wollte die Maske lediglich der Hauptforensik überreichen.", verteidigte sie sich sofort. Die Aussage kam prompt und ohne langes Überlegen. Man könnte meinen sie hätte ihre Ausrede auswendig gelernt.

„Sie müssen mir nichts vormachen.", meinte Milo ruhig und ließ von seinem Gegenüber ab. In Wards Gesicht spiegelte sich pures Unverständnis ab. Sie öffnete ihren Mund um etwas zu erwidern, doch Milo kam ihr zuvor.
„Wie haben Sie das gemacht?", fragte er und wies mit dem Kopf auf die Maske, welche die junge Frau in einen durchsichtigen, forensischen Beutel gesteckt hatte. Grace Ward folgte dem Blick des Anderen zu ihrer Hand und einige Sekunden war ihr Blick völlig leer, als würde sie ihren nächsten Schritt genau abwägen. Dann spitzten sich ihre Mundwinkel jedoch langsam nach oben hin zu und sie sah wieder auf. „Milo Chester. Beratender Amateurdetektiv. Rechte Hand von Weddington. Und dennoch stehen Sie gerade hier, vor mir und bitten mich um eine Auskunft?" Sie lachte leise und legte die freie Hand an die Wange ihres Gegenübers, Milo zuckte nicht zurück. Er studierte ihre Gesichtszüge, die sich innerhalb weniger Sekunden so verhärtet hatten, dass er sie kaum wieder erkannte. Grace Ward wirkte urplötzlich einige Jahre älter.
Sanft streichelte die Blonde mit ihren Fingern über die Wange des Dunkelhaarigen. „Was schlummert nur für eine dunkle Wahrheit in Ihrer Seele, wenn Sie sogar bereit sind Scotland Yard zu verraten, nur um mich zu treffen?", fragte sie, Milo konnte die Müdigkeit in ihrer Stimme nicht überhören. Die Blondhaarige ließ von ihm ab und wendete Milo Chester den Rücken zu, um das Fenster hinter sich zu öffnen. Dumpfer Straßenlärm vom Nachtverkehr Londons drang jetzt an Milos Ohr, ebenso wie das unverkennliche Rauschen der Themse, die gut acht Meter unter dem Nachtclub beständig wie eh und je durch London floss.

Grace Ward hatte sich inzwischen wieder zu ihrem Gegenüber gewendet. Milo wusste, dass er sie aufhalten musste, ihre Flucht vereiteln musste, doch alles was derzeitig in seinem Kopf herum schwirrte, war der Gedanke an die Maske und er öffnete den Mund, um sie vor ihrer Flucht nach Kontaktdaten zu fragen, doch bevor ihm die Bitte über die Lippen kommen konnte, ertönte hinter ihm ein lautes: „Hände hoch!" Milo wirbelte herum und erkannte Peter Green, den wohl letzten Mensch, den er jetzt hätte sehen wollen. Der Hellblonde stand einige Meter von ihnen entfernt und hielt seine Waffe mit ausgestreckten Armen, zielend und bereit zum Abschuss. Fast hätte Milo die Hände erhoben, doch er besann sich noch im selben Gedankengang: Green wusste rein gar nichts von seiner Zusammenkunft mit Grace. Er konnte im Nachhinein immer noch aussagen, er wäre Ward ganz überraschend über den Weg gelaufen und sie hätte ihn dann bedroht.

Der Dunkelhaarige zuckte zusammen, als er auf einmal heißen Atem an seinem rechten Ohr spürte. Grace hatte sich zu ihm nach vorn gebeugt und flüsterte kaum merklich: „Wir werden uns bald wieder sehen, Milo Chester." Mit diesen letzten Worten löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück.
„Ich habe gesagt, dass Sie die Hände heben sollen!", warnte Peter Green unterdessen die einzige Verdächtige, im Mordfall von Jackson Lewis. Doch die junge Frau schenkte dem Detective bloß ein umwerfendes Grinsen, ehe sie sich auf den Fenstersims setzte und sich ohne weiteres Zögern nach hinten fallen ließ, um in der reißenden Strömung der Themse zu verschwinden.

Milo hatte das ganze Spektakel nicht mit angesehen, da er mit dem Rücken zu Grace gestanden hatte, doch anhand des dumpfen Platschens, was durch das offene Fenster an sein Ohr getragen wurde, war es ein leichtes nachzuvollziehen was gerade passiert war.

„Verdammter Mist!", fluchte Green und stürmte an Milo vorbei zum Fenster, um hinunter zu spähen. Doch außer der dunklen Wassermasse, die alles was sie betrat in sich vereinte und mit riss, war nichts zu erkennen. Milo stand immer noch vollkommen überfordert an derselben Stelle und versuchte nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wieso war er so sehr von dieser Maske besessen? Hatte Weddington recht gehabt? Nahm ihn seine Arbeit ein? Er hatte sich gerade seelenruhig mit der Hauptverdächtigen der Ermittlung unterhalten, anstatt zu verhindern, dass sie flüchtete. Warum hatte er diesen dunklen Teil von sich nicht mehr länger unter Kontrolle? Milo Chester wusste, dass er schon oft Gedanken hatte, die seinem Arbeitgeber wohl das Blut in den Adern gefrieren konnten, doch nie hatte er sich gänzlich von diesen beherrschen lassen...bis jetzt. Und das schlimmste daran war, dass er die Gedanken auch jetzt nicht zurück drängen konnte. Dazu mischte sich nun auch noch eine gewaltige Ladung von Schuldgefühlen.

„Haben Sie versucht mit ihr zu reden?", wollte Peter Green wissen, der Hellblonde hatte sich mittlerweile wieder von dem Fenster abgewendet und funkte mit seinem Telefon gerade die Zentrale an, um das Geschehen zu übermitteln. Greens Stimme war jetzt wirklich das aller letzte, was Milo hören wollte. Wut stieg in ihm auf, das passierte immer, wenn er zu viel fühlte und nicht wusste, wo er die Gefühle und Gedanken alle einsortieren sollte, dann kristallisierte sich einfach nur lodernde Wut heraus.
„Nein, ich habe ihr stattdessen kräftig ins Gesicht geschlagen, was denken Sie denn? Meinen Sie Prügel würden nichts bringen?", entgegnete Milo sarkastisch. Green verdrehte die Augen und seufzte, es war ja nicht so als wäre er es mittlerweile schon gewohnt, als verbaler Boxsack für den Anderen herzuhalten.
„War ja nur eine Frage...Was hat Sie gesagt?"

Ehe Milo antworten konnte lösten sich zwei große Gestalten aus der Dunkelheit und kamen mit schnellen Schritten auf sie zu. Weddington informierte sich sofort über die Geschehnisse bei Green, während Sutcliffe das Ganze mit halbem Ohr verfolgte, jedoch weitestgehend Milo musterte, welcher sich noch nicht einmal bewegt hatte und die ganze Zeit auf dieselbe Stelle gestarrt hatte.

„Also was hat sie zu Ihnen gesagt, Chester?", wiederholte Weddington nun die Frage, die Green zuvor bereits gestellt hatte. Milo machte immer noch keine Anstalten sich zu bewegen. Er starrte bloß leer in den dunklen Gang des Nachtclubs. '

„Sie sagte, dass sie nichts bereue. Ich denke es mag sich dabei um eine Art ‚letzte Worte' gehandelt haben.", erläuterte Chester mit ruhiger Stimme.

Lügen war für Milo nicht sonderlich schwer, auch wenn er es nicht gerne tat. Es beanspruchte ihn ein falsches Bild von sich selbst zu heucheln. Der Dunkelhaarige löste sich aus seiner Position, in der er jetzt so lange gestanden hatte, dass sogar seine Schultern vor Angespanntheit schmerzten.
„Ich werde mich jetzt entschuldigen.", er brauchte dringend Ruhe und auch Zeit, um wieder klarere Gedanken fassen zu können.
„Natürlich, Chester. Ich sehe Sie dann morgen.", willigte Weddington sogleich ein, ehe er sich wieder zu Green wandte, um ihren nächsten Schritt zu planen.

Benommenheit legte sich auf Milo, als er begann den Gang zurück zu gehen. Er fühlte sich seltsam benebelt und die Konturen seiner Umgebung verschwammen ineinander. Er hasste es, wenn das passierte.

„Soll ich Sie nach Hause fahren? Sie sehen nicht gerade sehr stabil aus, wenn Sie die Bemerkung gestatten.", erklang auf einmal eine dunkle Stimme ganz nah neben ihm. Milo hatte gar nicht bemerkt, dass Sutcliffe ihm gefolgt war. Der Andere konnte sich wirklich sehr leise bewegen, bemerkte Milo.

Eigentlich hätte der Kleinere sofort das Angebot ausgeschlagen, aber Milo bezweifelte es, dass er vom Süd-Bezirk Londons bis zum Bezirk Waltham Forest laufen konnte und Kleingeld für die U-Bahn hatte er nicht dabei. Seufzend wandte er sich mit einem Nicken zu seinem Psychiater.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht."

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