Liebestraum

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Die dritte Maske war gegen ein Uhr mittags in der überfüllten Einkaufsmeile aufgetaucht. Seit geschlagenen zwei Stunden wurde jeder Passant, jeder Ladenbesitzer und jeder noch so unwichtige Bürger, Befragungen unterzogen. Niemand wollte etwas gesehen haben, nicht einmal der Zeuge, der die Polizei überhaupt verständigt hatte, als er oder sie die Maske fand, war noch aufzufinden. Es war als suchte man die Nadel im Heuhaufen. Mittlerweile war sich Milo fast zu hundert Prozent sicher, dass der Serienmörder Untergestellte hatte. Grace war eine von diesen Bauern, die der Maskenmörder auf dem Schachbrett nur hin und her schob. Doch Grace schwieg wie ein Grab, sie hatte sich unter dem Vorwand eines Zeugen-Schutz-Programmes zurückgezogen und wollte rein gar nichts mehr mit der Angelegenheit zu tun haben. Milo wunderte dies nicht im Geringsten. Ihr Gegner war ein Meister der Manipulation und schien London, samt seiner Bürger, besser zu kennen als seine Westentasche.

Diesmal war Milo nicht an den Tatort gekommen. Es war nicht nötig, sie wussten bereits wer das Opfer war und die gesamte Szenerie war so makellos und fehlerfrei, wie sie es von dem Maskenmörder gewöhnt waren. Wie zu erwarten war, behielt Milo mit seiner Theorie Recht. Mister Peddrok war tatsächlich das dritte Opfer des Serienmörders. Jetzt ließ sich endgültig nicht mehr daran zweifeln, dass er nach seinem Mord an Miss Peddrok zurückgekehrt war, um – welchen Fehler er auch immer begangen hatte – zu beseitigen, dabei war er jedoch auf Mister Peddrok getroffen, der bis vor wenigen Stunden noch als vermisst galt, nun jedoch in Form einer wunderschönen, perfekt konservierten Maske als Beweismittel in den hohen Räumen Scotland Yards in irgendeiner Asservatenkammer lag. Wer brauchte schon Särge und Beerdigungen, wenn man in einem Kühlfach liegen konnte? Blieb nur die Frage übrig was mit dem Rest von Mister Peddrok geschehen war. Das war immer noch ein Punkt, der Milo so unklar war, wie die Identität des Maskenmörders selbst. Sie hatten bereits Fahndungen nach Leichenteilen in ganz London veranlagt. Doch weder den Körper von Lewis, Miss Peddrok, noch den von Mister Peddrok hatten sie gefunden. Das Ganze war so bizarr, dass Milo mittlerweile an seinen kognitiven Fähigkeiten zweifelte.

„Weißt du, ich finde es äußerst unromantisch, dass du gerade jetzt das Bild von dieser schrecklichen Maske anschauen musst.", angeekelt wich Raymond von dem Hals des Jüngeren zurück. „Das macht echt die Stimmung kaputt."
„Tut mir leid.", gestand Milo und betätigte den Ausschaltknopf seines Tastentelefons. Das Bild Weddingtons, welches das eingefallene Gesicht Mister Peddroks zeigte, dessen braune Augen seelenlos in die Kamera zu blicken schienen, verblasste und ging im schwarzen Bildschirm unter. „aber das Ganze fasziniert mich total. Er fasziniert mich total.", erklärte Milo, während er nach seinem Pullover griff, den Raymond zuvor auf den Boden geschleudert hatte. Der Psychiater hob verwundert eine Augenbraue.
„Er? Der Mörder?", fragte er tonlos nach. Milo nickte und streifte sich seinen Pullover über, ein wenig enttäuscht stellte er fest, dass er keine Ahnung hatte, in welchem Raum Raymonds Appartements sich seine Hose befand. „Ich meine ich bewundere ihn schon für sein Schaffen. Er hinterlässt keine Spuren und scheint eine kleine Armee von Untergestellten zu besitzen, die ihn alle entweder so befürworten oder fürchten, dass es nicht eine undichte Stelle in seinem System zu geben scheint. Das ist beeindruckend. Schau dir doch nur Grace an: sie schweigt, wie ein Grab."
„Naja.", setzte Raymond an. „Wenn sie nicht schweigen würde, wäre sie vermutlich mittlerweile selbst ein Grab."
Der Jüngere strafte ihn mit einem bitteren Blick. „Das ist echt nicht der Augenblick für Wortspiele, Mister Sutcliffe." Doch auf den Lippen Milos zeichnete sich ganz eindeutig ein verschmitztes Lächeln ab, was Raymond als Anlass nahm näher zu dem Anderen zu rutschen. Sie hatten gefühlt den gesamten Nachmittag in dem großen Boxspringbett Raymonds verbracht und Milo verspürte nicht den Drang sich aus den warmen Decken zu lösen. Er mochte diese kalten Herbsttage, an denen London seinem regnerischen Ruf nur allzu gut nachkam. Es war wie eine geschenkte Entschuldigung den Tag im Bett zu verbringen. Der Kleinere ließ sich nach hinten in die Kissen fallen und erwiderte den sanften Kuss des Psychiaters, während dieser über ihm lehnte und sich schließlich neben Milo fallen ließ.
„Ich weiß nicht wie es dir geht, aber sind diese ‚Opfer' überhaupt Opfer?", fragte Raymond und sprach damit genau das an, was Milo schon die ganze Zeit im Kopf umher schwirrte. Und nie zuvor hatte Milo ihn mehr geliebt als in diesem Moment, weil er selbst die dunkelsten Gefühle in den tiefsten Winkeln seines Herzens erwiderte.
„Er ist wie ein Racheengel. Noch dazu so vorsichtig und schüchtern wie ein Reh, aber so gefährlich wie eine Schlange. Kaum einer seiner Schritte ist in irgendeiner Weise berechenbar.", pflichtete Milo ihm bei. „die Nachforschungen der Opfer, unserer Opfer hat auch nichts Brauchbares ergeben. Es gibt keine Knotenpunkte zwischen dem Fall der Lewis und dem Fall der Peddroks. Die Opfer der Beiden Familien haben in keinster Weise etwas mit einander zu tun. Er muss sie zufällig auswählen."
„Vielleicht ist er genau das, was diese Stadt braucht. Einen Racheengel."
Milo war ein wenig erschüttert, wie bitter die Stimme des Psychiaters auf einmal klang. Bestürzt drehte er sich auf die Seite um den Größeren aufmerksam zu betrachten. Irgendwie war der Raum kälter geworden. „Selbstjustiz ist dennoch keine Lösung.", brachte er an, auch wenn ihm eine beständige Stimme zuflüsterte: ‚Ist das so?'
Raymond neigte den Kopf und legte die Hand an die Wange seines Patienten. „Was ist denn dann die Lösung? Was ist am Ende der Klang der Wahrheit? Die Wellen des Meeres, das Lachen eines Kindes? Oder vielleicht gibt es sogar konkurrierende Wahrheiten. Die Wahrheit des Verstandes, die Wahrheit des Herzens. Wenn jeder Apfel verdorben ist, dann ist der unverdorbene Apfel der Schlechte. Der vernünftige Mann ist schließlich der Verrückte. Wenn neun von zehn etwas annehmen, bezeichnen wir diese Annahme als Norm, was den Zehnten schließlich als unnormal erklärt. Vor einigen Jahrzehnten, nicht einmal vielen, wurden Verrückte auf ein Schiff geschnallt und auf die See geschickt. Sie bekamen die Suche nach ihrer verlorenen Vernunft aufgetragen. Man nannte diese Schiffe, die Schiffe der Narren. Und für eine lange Zeit dachten wir, wir wären die vernünftigen, zurückgelassenen auf trockenem Land. Aber was, wenn wir das nicht sind? Was wenn mittlerweile so viel Zeit vergangen ist, dass wir die Wahrheit vergessen haben? Dass wir die Narren sind, treibend auf einem endlosen Ozean, bloß so tuend als wären wir normal.", meinte Raymond, während er eine dunkle Locke Milos zwischen Zeigefinger und Daumen hielt und gedankenverloren damit spielte. Milo studierte die Augen des Anderen. Sie waren so dunkel, wie er sich fühlte. Und dennoch strahlten sie Wärme aus. Wie war das überhaupt möglich? Ein wunderschönes Paradoxon.
„Solltest du sowas, als Psychiater, wirklich sagen?", fragte er schmunzelnd. Mittlerweile hatte Milo schon bemerkt, dass Raymond sehr oft eine Meinung annahm, die der Norm eher missfallen würde. Aber vielleicht verstand er gerade durch sein Studium und sein Wirken, die Unverstandenen besser als sonst irgendwer.
„Ich weiß doch ganz genau, dass du diese dunklen Gedankengänge mindestens genauso sehr liebst, wie ich.", selbstüberzeugt grinste Raymond und Milo spürte, wie ihm beinahe das Herz versenkt wurde.
„Te amo como se aman ciertas cosas oscuras.", räumte Milo ein, wohlwissend, dass Raymond ebenfalls dieselben Sprachen sprach wie er selbst.
„Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt.", übersetzte Raymond und das Grinsen auf seinem Gesicht wandelte sich in ein herzzerreißendes Lächeln um. Ohne Vorwarnung setzte er sich auf und zog den Anderen mit sich. Milo fand sich ein wenig überrumpelt auf Raymond wieder, der sein Kinn auf dem Lockenschopf des Jüngeren ablegte. Raymond strahlte so viel Ruhe und Sicherheit aus, dass sich Milo sicher war, dass seine bloße Anwesenheit ihn vor einer Panikattacke bewahren hätte können. Der Kleinere legte die Arme um den Anderen und schmiegte sich unterhalb des Brustbeins Raymonds an. Mit den Händen zeichnete er sanft die Wirbelsäule des Anderen nach. Raymond hatte es bisher noch nicht als notwendig empfunden, sich wieder ein Hemd überzustreifen und Milo konnte sich wirklich nicht beschweren.
„Zweifelst du auch manchmal daran, ob wir hier das Richtige tun?", fragte Raymond plötzlich in die entspannte Stille hinein.
„Du meinst, weil du mit deinem Patienten schläfst?", fragte Milo scherzhaft nach. „Oder weil du ein alter Sack bist und ich ein frisches, junges Gemüse?"
Raymond schüttelte leise lachend den Kopf. „Hör auf, das ist wirklich verletzend.", räumte der Ältere ein.
„Nein, ich meine.", Raymond schwieg für einige Sekunden, als suche er nach den richtigen Worten. „Ach, egal. Ist eh nicht so wichtig, vergiss es."
Jetzt wurde Milo hellhörig und richtete sich auf, stumm musterte er das von Sorge gezeichnete Gesicht des Anderen. Raymond versuchte sich nichts anmerken zu lassen und zwang sich sogar zu einem Lächeln, doch offenbar hatte er vergessen, dass er mit Jemandem redete, der eine ausgeprägte Empathie-Störung besaß und jede noch so kleine Regung perfekt deuten konnte.
„Nein, so nicht.", entschlossen schüttelte Milo den Kopf, sodass seine Locken in alle Richtungen flogen. „Sag schon. Was ist los?"

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