Lacrimosa

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Kenny wendete den Kopf in Richtung seiner linken Schulter, bis die Wirbel leise knackten. Er sah mittlerweile ziemlich angeschlagen aus, offenbar ging ihm die gesamte Angelegenheit doch näher, als Milo zu Beginn erwartet hatte. Der Silberblonde legte die Hand in den Nacken und zog zischend die Luft ein.
„Also gut, pass auf...", begann er schließlich doch noch. „Raymond hat seine Mutter vergöttert. Zwar hat er auch unseren Vater gemocht, dennoch war er anders, wenn Marilyn dabei war. Sie war sein größtes Vorbild. Ich kann mich noch an einen Weihnachtsabend erinnern, an dem mein Vater auch Marilyn eingeladen hatte. Es war das erste Mal, dass nicht nur Raymond am Heiligabend bei uns war, sondern auch seine Mutter.", der Größere seufzte bedrückt, „Ich weiß noch, dass ich nicht verstanden habe, wie Raymond sie so lieben konnte. Ich war noch zu klein, um zu verstehen, dass Raymond sie einfach für ihre Art verehrt hat. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich dachte: ‚Wie kann er sie nur so viel lieber haben, als unseren Vater, der uns jeden Wunsch von den Augen abließt?' Später verstand ich dann, dass Raymond eine emotionale Bindung zu seiner Mutter hatte und meine Beziehung zu meinen Eltern, auf rein materieller Basis bestand.", Milos Fahrer lachte bitter, es klang fast ein bisschen melancholisch. Als hätte man einen Blick auf etwas vollkommen Zerbrochenes erhascht, von dem man bis dato geglaubt hatte, es sei völligst in Takt. Es war der hohle Klang von Enttäuschung. „Ich weiß noch, dass ich eifersüchtig auf Raymond und seine Mutter war. Sie hatten scheinbar nichts und doch Alles. Du musst wissen, dass Marilyn, nachdem sie als die Sekretärin meines Vaters entlassen wurde, sehr lange keine Arbeit mehr gefunden hat. Sie und Raymond lebten eine Zeit lang nah am Bankrott. Zwar half unser Vater ihnen immer mal wieder mit dem Geld aus, wenn er mitbekam, dass es wieder einmal mit der Miete zu knapp wurde oder dergleichen, doch meistens war Marilyn zu stolz, um nach Hilfe zu bitten oder diese überhaupt anzunehmen. Sie führten stundenlang Diskussionen darüber, dass Raymond zu uns ziehen sollte, doch Marilyn wehrte sich förmlich mit Händen und Füßen dagegen."
Nervös rutschte Milo in seinem kaputten Beifahrersitz hin und her.
„Was hast du davon gehalten?", wollte er wissen, während er unruhig mit dem Roten-Satin-Saum, des wahrscheinlich nicht zulässigen Fahrgurtes spielte. Kenny warf ihm einen tonlosen Blick zu. Seine Mundwinkel wirkten gezwungen nach oben gezogen. Er versuchte zwar kein Lächeln vorzuheucheln, doch alles an ihm wirkte, wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte und welches sein Schicksal längst akzeptiert hatte. Er hatte schon lange aufgegeben.
„Ich war zu klein, um irgendeine richtige Meinung aufzunehmen, geschweige denn mit zu diskutieren. Jedenfalls war das stets meine Ausrede. Versteh' mich nicht falsch, Raymond und ich verstanden uns ziemlich gut. Wir hatten dieselben Interessen und wann immer er da war, fühlte ich mich endlich wieder ‚zuhause'. Das große Haus kam mir ohne ihn immer schrecklich leer vor und ich fühlte mich allein. Ich vergötterte ihn, wie das kleine Brüder ebenso tun.", er lachte hohl, „ich glaube, ich habe ihn das ein oder andere Mal ganz schön genervt. Naja, was heißt ‚habe'? Ich tue es noch immer.", spielerisch zwinkerte er Milo kurz zu. Der Gedanke an einen jüngeren Raymond, der ein ganz grandioser, großer Bruder war,  entlockte Milo ein Lächeln. Der Privatdetektiv genoss es, dass sie – wenigstens für kurze Zeit – eine Pause von den dunklen, trauervollen Themengebieten nahmen.
„Wie war er so?", wollte Milo wissen.
„Raymond? Er war...ein toller großer Bruder.", räumte Kenny leise lachend ein, „ich meine, ich hab ihn nicht umsonst vergöttert. Er war auch damals schon schrecklich ernst und Jahrgangsbester. Raymond war mein ständiges Vorbild. Allen Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung zeigte er die kalte Schulter, er schien sich nicht sonderlich viel aus zwischenmenschlichen Beziehungen zu machen. Außer wenn es um Marilyn ging, oder um mich."
Verlegen fuhr sich der Ältere durch die silberblonden Haare, seine Augen hatten einen wehmütigen Glanz angenommen. „Ich war damals nicht sonderlich beliebt. Raymond hat meine Feinde wortwörtlich in die Flucht geschlagen. Er hatte schon immer einen übertrieben, großen Gerechtigkeitssinn und einen ebenso gewaltigen Beschützerinstinkt.", Kenny warf seinem Beifahrer ein stolzes Grinsen zu.
„Wie dem auch sei...", er wendete seine Konzentration wieder der Straße zu – was vielleicht auch ganz gut war – doch seine Mundwinkel sanken herab, als hätte man Gewichte daran gehangen
„Weil Marilyn das Geld unseres Vaters aus Stolz nicht annehmen wollte, begann sie schließlich in der einzigen Firma zu arbeiten, die ihre Bewerbung nicht wieder unter den Stapel gedrückt hatte: Einer Industriefabrik."
Milo ahnte bereits schlimmes, da Kennys Stimme erneut belegt klang, doch er schwieg vehement und wartete darauf, dass der Andere weiterfuhr.
„Sie hatten es dort nicht unbedingt mit Sicherheitsvorkehrungen. Die Luft war mit den Chemikalien, dem Staub und den Gasen belastet. Sie wurde sehr schnell sehr krank. Die Diagnose lautete Lungenkrebs. Das waren wohl die härtesten Jahre Raymonds. Nach Marilyns Tod zog er sich gänzlich zurück, wir versuchten alles um ihn aus seiner errichteten Festung heraus zu locken, doch es gelang uns nicht. Mein Vater brachte ihn schließlich mit 12 in psychologische Behandlung. Die Verantwortlichen – die CEOs der Industriefirma – bekamen vor Gericht bloß eine geringe Strafe.", mittlerweile klang Kenny deutlich ungehaltener.
„Verdammt!", fluchte er und schlug mit der Hand gegen das Lenkrad, „die Welt ist so schrecklich ungerecht! Raymond war nach den Verhandlung wie, als hätte er Blut geleckt. Ich weiß noch, dass ich ihn im Gerichtsaal kaum widererkannt habe. Er sah so wild aus, wie ein tollwütiges Tier."
Milo war ganz kalt geworden, dabei war gerade die Sonne aufgegangen und er spürte ihre Strahlen auf seiner Haut, doch dies reichte nicht aus um die Kälte, die scheinbar aus seinem Inneren heraus zu kommen schien, zu vertreiben.
„Die Einzige, die ihm durch diese Zeit geholfen hatte, war seine Betreuerin. Misses Johnson. Sie war für ihre Schützlinge wie eine Ziehmutter, habe ich mir zumindest sagen lassen. Und für Raymond bedeutete sie alles.", Kenny fuhr links ab und der Wagen beschwerte sich mit einem lauten Knacken über den hohen Bordstein. Milo erkannte den Parkplatz. Er gehörte zum St. Mary's Hospital.
Der Jüngere starrte auf das Krankenhaus und begann entschlossen den Kopf zu schütteln. Er spürte, wie ihm die Kälte die Arme hinauf kletterte.
„Nein...", hauchte er verbittert.
Kenny hielt den Blick gesenkt. „Misses Johnson hatte einen Schlaganfall. Sie wollen heute die Geräte abschalten."
Genau das hatte Milo befürchtet, dennoch fühlte er sich als hätte man ihn ohne Vorwarnung ins kalte Wasser gestoßen. Und dabei hatte er Misses Johnson nie persönlich kennen gelernt. Vielleicht lag es an seiner Empathie Störung, dass er von einer Welle von Mitgefühl erfasst wurde. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass er Raymond zum ersten Mal verletzlich gesehen hatte und nun den Hintergrund kannte. Zu wissen, dass er dem Anderen nicht helfen konnte, nicht verhindern konnte, dass Raymonds Herz blutete, das war das Schlimmste.
„Wann?", Milos Stimme war nicht mehr als ein Hauchen.
Kenny ließ den Kopf nach hinten gegen seine Lehne fallen. Seine Augen waren geschlossen, als hätte er sich dazu entschlossen, die gesamte Welt konsequent zu ignorieren und damit auch all ihr Leid. Milo ertappte sich bei dem Wunsch es ihm gleich zu tun, doch das konnte er nicht. Das würde er sich nie verzeihen.
„Wenn du dich beeilst, dann schaffst du es vielleicht noch.", antwortete Kenny furchtbar tonlos.
Milo hatte die Hand bereits am Türgriff. „Wirst du nicht mitkommen?"
„Ich kann nicht.", Kenny wendete sich wieder Milo zu, mit zusammen gekniffenen Augen, die verdächtig gläsern wirkten. „Ich bin allergisch gegen den Tod."

Milos Herzschlag hallte ebenso laut in seinem Kopf wider, wie seine schnellen Schritte im Flur des Krankenhauses. Durch die frühe Uhrzeit war es noch relativ ruhig und dennoch hatte Milo das Gefühl, als würden Schreie durch sein Inneres schallen. Seine Augen überflogen die Türen und suchten hitzig nach der Nummer, die man ihm beim Empfang genannt hatte.
Endlich kam sie in sein Sichtfeld. Milo hielt abrupt vor der Tür an, seine Hand schwebte nur wenige Zentimeter über der Türklinke. Hastig zog er die Luft ein. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass er gerannt war.
Seine Hand bewegte sich von allein. Die Tür öffnete sich und Milo konnte nicht anders, als im Türrahmen stehen zu bleiben und zu starren. Es war als hätte sich eine unsichtbare Grenze aufgetan, die ihn von dem Bett trennte.
Die Bettlaken waren weiß, die Gardinen waren weiß, die Wände waren weiß, der Kittel des Arztes, der neben der Beatmungsmaschine stand, war weiß, die Haare der Frau, die in dem großen Bett viel zu abgemagert und klein aussah, waren weiß und ihre Haut war weiß. Die Farbe, die die Haut eines Menschen nicht haben sollte. Raymond saß auf dem Bett. Er hielt ihre Hand, eine kraftlose Hand, die den Druck Raymonds nicht erwiderte. Sie bewegte sich nicht und Milo hatte für einen Moment den Gedanken, dass er zu spät gekommen war. Dann bewegte sie sich doch. Allerdings nur ihre Lippen.
„Es bringt nichts, Schätzchen. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich kann nicht mal mehr meine Augen öffnen. Dieser Körper ist wie ein Gefängnis. Ich kann das nicht mehr. Nicht nach so vielen Monaten. Du musst mich gehen lassen.", ihre Stimme klang rauchig und belegt. Sie sprach sehr langsam und leise. Das Beatmungsgerät summte vor sich hin.
„Wissen Sie, während der ersten sechszehn Jahre meines Lebens haben mir alle immer gesagt ich wäre ein schlimmes Kind. Und Sie haben bloß gesagt ich wäre seltsam. Alle anderen Betreuer haben mich zur Direktorin geschickt. Sie haben mich ins Labor geschickt. Sie wussten, wie ich bin. Sie haben mich als Einzige richtig verstanden.", zitternd holte Raymond Luft. Sein Blick war bloß auf Misses Johnson gerichtet, die diesen wahrscheinlich nie wieder erwidern würde.
„Du warst immer einer meiner Lieblinge.", sagte sie hüstelnd.
Ein schwaches Lächeln stahl sich auf die Lippen von Raymond. „Ich sag es niemanden weiter.", flüsterte er. „Das wusste ich aber natürlich. Ich hab das gewusst.", fügte er dann noch ein wenig spielerisch hinzu. Misses Johnson stieß einen Laut aus, der entfernt an ein Lachen erinnerte.
„Sie können jetzt, Doc.", sagte sie schließlich und Raymond umklammerte ihre Hand nur noch fester. Milo fragte sich, wie oft Misses Johnson bereits einen weinenden Raymond an den Händen gehalten hatte. Der anwesende Arzt hatte Milo keines Blickes gewürdigt und das tat er auch nicht als er sich an ihm vorbei aus dem Raum drückte, nachdem er die Maschinen abgeschaltet hatte. Langsam vererbte das Brummen des Herzschrittmachers, der Atmungsmaschine, der Magensonde und all der anderen Katheder.
„Mein Junge...", hauchte Misses Johnson. Dann war es als würde alles verstummen. Die Geräte, die belegte Stimme der ehemaligen Betreuerin. Es war als hätte jemand die gesamte Szenerie auf lautlos gestellt. Nur wenn man sich eventuell ganz genau darauf konzentriert hätte, hätte man vielleicht ein leises Tropfen vernommen.

Raymond weinte ohne jeden Ton.

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