Identität Teil24

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Cal schlief nicht gut. Was er mit Drogen betäubt hatte, kam jetzt nachts immer deutlicher zu ihm, verzerrte Bilder, widerliche Gerüche, brutale Stimmen, sein Körper erinnerte sich sogar an Schmerzen, die längst vergangen waren. Seine Muskeln verkrampften und er empfand Übelkeit. Er lag schon wach, während Jem noch schlief und überlegte, ob er ihn wecken sollte. Sie könnten Sex haben, was bestimmt half, wie überhaupt alles an diesem Cowboy zu helfen schien. Dann allerdings kam ihm in den Sinn, dass er seine Schürfwunden zeigen müsste. Die Polizei würde eine Untersuchung veranlassen und Beweisfotos machen. Cal kannte das schon von früher, viel früher. Bestimmt wäre es besser, wenn da keine neuen Knutschflecken hinzukämen. Der einzige Grund, warum er die Polizei, ihre Methoden und die unausweichlichen Konsequenzen überhaupt in Kauf nahm, war, dass es keinen anderen Weg in ein ‚normales' Leben geben würde. Er brauchte seine Identität mit Papieren zurück und Mister Js Tat anzuzeigen, wäre ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Mit einem Stricher und Junkie ohne Namen kann man alles machen, aber nicht mit Callum Robinson, nicht mit Mister Robinson. Das änderte nichts daran, dass es furchtbar werden würde. Und das Furchtbarste war, dass Jem es erfahren würde. Cal wollte ihm gern glauben, dass all das für Jem keinen Unterschied machte, aber hatte ein gebildeter junger Mann aus einer angesehenen, bürgerlichen Familie überhaupt eine Vorstellung, was da in Cals Vergangenheit vergraben lag?

Als Jem wach wurde, knutschten sie eine Weile, bis es Zeit wurde, um aufzustehen, zu frühstücken und kurz mit dem Hund vor die Tür zu gehen. Danach suchte Jem für Cal ein paar Sachen raus, in denen er ‚normal' aussah. Also nicht zu sexy und ein bisschen teuer. Der erste Teil war nicht so einfach, fand Jem. Das neue Hemd war super, aber statt der neuen Jeans suchte er eine weniger Figur betonende von sich selbst heraus. Cals Sneaker sahen zu abgetragen aus und Jem holte ein paar Lederschuhe. Das blutige Hemd vom Vortag nahmen sie in einer Tüte mit, dann ging's zum nächsten Polizeirevier. Nach etwa zehn Minuten, in denen Callum kein Wort sprach, aber stattdessen zum ersten Mal Jeremys Hand umfasste und sie so fest hielt, dass Jem merkte, wie seine Fingerkuppen weiß wurden, hatten sie den Eingang erreicht. Jem schaute Cal noch einmal in die Augen, um ihn zu bestärken. „Du schaffst das."

„Bitte bleib, egal was passiert."

„Ja natürlich."

Dann, vielleicht nur für Jem sichtbar, veränderte sich Callums Haltung und sein Blick, fast so, als würde er das, was eben noch unsicher oder gar verletzlich schien, komplett von seiner äußeren Erscheinung abstoßen. So ging er mit Jem durch die Tür, sie betraten das Revier und kamen zu einem Tresen, wo ein Detective aufschaute und fragte, was sie wollten. „Ich möchte eine Anzeige machen, wegen Körperverletzung", sagte Callum klipp und klar. Der Mann nickte, als er das Pflaster an der Schläfe sah und brachte sie in ein Büro, wo ein anderer die Sache übernahm. Als der ein Formular in seine Schreibmaschine spannte und begann, die Anzeige aufzunehmen, fragte er nach Cals Personalien.

„Ich habe keine."

Der Mann sah auf. „Wieso hast du keine Papiere?"

„Ich hatte nie welche. Ich... bin ein Ausreißer."

Das klang irgendwie besser als Obdachloser, fand Jem, allerdings nicht lange, denn Cal musste dem Detective erklären, wie es dazu kam. Er nannte seinen Namen und den eines vom Jugendamt benannten Vormunds, dem er fortgelaufen war, als er fünfzehn war. Es dauerte nur ein paar Klicks am Computer, da hatte der Detective eine entsprechende Akte gefunden. Robinson, Callum: vermisst nach häuslicher Auseinandersetzung wegen Drogenbesitzes. Verbleib: unbekannt. Suche 2016 eingestellt.

„Er wohnt bei mir", bemerkte Jem und gab seine Adresse an.

Der Detektive nahm das zu Protokoll. „Kommt nicht oft vor, dass einer von euch Jungs wieder auftaucht", fand er und irgendwie schien das Callum Mut zu machen. Er beantwortete die Fragen zum Tatort, Zeitpunkt und Täter problemlos bis zum Tathergang. Der Detective blieb ruhig und professionell, nur gelegentlich fragte er nach. Hatte er laut und vernehmlich klar gemacht, dass er keine sexuelle Handlung wünschte? Ja. Nach dem Schlag war Callum wie lange ohnmächtig? Keine Ahnung, vielleicht fünf, zehn Minuten. Nachdem er Mister Johnson mit der Lampe geschlagen hatte, warum lief er fort? War Mister Johnson bewusstlos? Warum hatte Callum nicht sofort die Polizei eingeschaltet? Wer war der Arzt? Möchte Callum anschließend von einer Ärztin oder einem Arzt untersucht werden? Wünscht er psychologische Betreuung? Callum blieb scheinbar gefasst und Jem gab sich die größte Mühe, das auch zu sein. Als Cal mit einer Ärztin zur Untersuchung ging, wartete Jem auf dem Gang. Es gab einen Kaffeeautomaten und er holte sich einen Becher. Er hatte recht verstanden. Cal war als Teenager aus behördlicher Aufsicht abgehauen. Drogen mit fünfzehn. Dann, als Callum wiederkam, erläuterte der Detevtive wie es weitergehen würde. Sie gaben Callum ein provisorisches Ausweispapier, würden seine Identität aufgrund seiner Angaben nochmals überprüfen. Er müsste damit rechnen, nochmal auf dem Revier aussagen zu müssen. Jetzt werde erstmal Mister Johnson zur Befragung gebeten. Jem gab der Polizei seine Telefonnummer. Danach konnten sie gehen. Kaum waren sie draußen, wirkte es auf Jem, als würde Callum gleich schreien oder hyperventilieren oder um sich schlagen. Seine Beherrschung war klar am Ende. „Schnell weg hier", brachte er heraus. „Du warst tapfer, jetzt komm her", sagte der Blonde und nahm ihn fest in den Arm. „Wird alles gut", flüsterte er, dann führte er ihn nachhause.

Verführt, verirrtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt