Schlimm Teil48

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Wie würde man seinem eigenen Bruder erklären, warum es einem lieber gewesen ist, er hielte einen für tot?

Wie würde man seinem eigenen Bruder erklären, dass man acht Jahre seines Lebens auch lieber tot gewesen wäre?

Wie würde man seinem eigenen Bruder erklären, warum man dann noch am Leben war?

Wie erklärte man Missbrauch, Gewalt, Hilflosigkeit, Drogen und schließlich ein Leben auf der Straße als Sex- Worker, Junkie, Schwanzlutscher, Stricher, Fixer, Hustler, He- Bitch, Mietarsch... was immer auch die Worte dafür wären, Callum hatte sie alle gehört. Welche Worte würde Rory verstehen?

Als sie im Flur gelegen hatten, gab es nichts anderes, als das unglaublich gute, unbeschreibliche Gefühl, dass sie sich wiedergefunden hatten. Rory hatte ihn in den Arm genommen, das war so gut und warm und richtig und beinahe unbegreiflich, weil es wirklich geschah. Noch vor kurzem wäre es völlig unmöglich gewesen. Doch etwas in Callums Kopf, die gleiche innere Stimme, die all diese furchtbaren Worte kannte und benutzte und ihm eingeredet hatte, so könne er seinem Bruder, so könne er niemandem gegenübertreten, meldete sich wieder zu Wort, schon während sie sich an den Tisch setzten und Rory, völlig aufgewühlt, mit zittrigen Händen den Kessel für mehr Kaffee aufsetzte. Er schaute immer wieder zu Cal und auch zu Jem und strahlte über das ganze Gesicht. „Ich glaub's noch nicht, dass du, dass ihr hier seid!" Er schüttelte den Kopf und füllte Instant Kaffee in die Becher. „Du meine Güte, ich dachte doch glatt, ich sehe 'nen Geist!" Er begann im Kühlschrank zu kramen. „Scheiße, ups! Also doof, meine ich, aber da ist nicht viel drin. Was mögt ihr?"

Callum wusste nicht recht. Toast ging eigentlich immer. „Hast du Toast?"

„Ja, sicher. Magst du Erdnussbutter?"

Callum nickte. „Ja, is cool." Es war natürlich mehr als nur cool, dass er und sein Bruder die gleiche Vorliebe für Erdnussbutter hatten. Nur würde das Thema irgendwann ernst werden. Was sollte er bloß sagen? Er versuchte mit aller Willenskraft diese innere Stimme zum Schweigen zu bringen. Er merkte nicht, dass ihn das tatsächlich sehr wortkarg machte, was alles andere als nahelag. Er hatte unwillkürlich eine Faust geballt. Jem neben ihm, bemerkte das und nahm jetzt unterm Tisch seine Hand und strich mit seiner anderen darüber. Das war sicherlich beruhigend gemeint, nur war es das nicht, denn es sagte doch wohl aus, dass auch er wusste, was da für Fragen und Antworten auf Callum zukämen. „Wird alles gut", flüsterte er ihm zu. Callum blinzelte und wünschte, es könnte so sein.

Rory telefonierte jetzt mit seiner Arbeitsstelle. „Hallo? Ja, ich bin's, Rory. Ich kann heute nicht kommen... nein, mir geht's eigentlich sogar richtig gut. Mein Bruder ist hier... ja, richtig. Ich erkläre das später. Danke. Bye."

„Was arbeitest du?", fing Jem mit einem harmlosen Thema an.

„Ich bin Techniker, hier am Theater. Licht und Ton, sowas eben. Die werden heute hoffen müssen, dass alles auch mal ohne mich klappt."

„Wow, toller Job. Bist du deswegen hierher gezogen?" Jem kannte sich wohl aus, Callum allerdings nicht. Aber wenn Jem das für 'nen tollen Job hielt, war es ganz sicher einer.

Rory freute sich über die Bemerkung, dann jedoch veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Er schien plötzlich eine unschöne Erinnerung zu haben. „Auch deswegen", sagte er dann, etwas zögerlich, „aber hauptsächlich war ich froh, aus London wegzukommen. Ich... musste irgendwie weiter machen. London war irgendwann nicht mehr erträglich. Die vom Jugendamt haben mir immer wieder gesagt, dass sie nicht mehr zuständig sind. Du wärst Angelegenheit der Polizei. Und die... naja, die haben dich irgendwann für tot erklärt. Ich hab trotzdem weiter gesucht. Hab Suchplakate aufgehängt und so Zeug. Hab Jungs angesprochen, die irgendwie Ähnlichkeit mit dir hatten. Ganz schön freakig." Er wandte sich an Callum, suchte seinen Blick.

„Das... tut mir leid, das wollte ich nicht", sagte Callum leise. Es war natürlich die Wahrheit, aber noch längst nicht genug. Er bekam langsam eine Vorstellung davon, was sein Verlust für Rory bedeutet haben musste.

Rory fand es seltsam, dass Callum ausgerechnet das sagte. Was konnte er dafür? „Hier, der Kaffee ist fertig", wechselte er dann das Thema und gab jedem eine Becher. Vielleicht würden Fragen und Antworten leichter fallen, wenn sie erstmal etwas beim Frühstück zusammengesessen hätten. „Danke, der riecht echt lecker", brachte Callum heraus. Dann kam ihm die Idee, von Jeremy zu erzählen, das wäre auch einfach. „Jem hat übrigens jemanden ins Jugendamt geschickt, damit der was über dich herausfindet. Und die hatten wohl deine Adresse."

„Ja, stimmt. Ich habe sie quasi gezwungen, die aufzuschreiben, für den Fall, dass du lebst und mich suchst."

„Das war clever", fand Jem.

„Das hat die ganz schön genervt." Rory grinste. „Aber wieso hast du gesucht und nicht Callum?"

„Ich wusste gar nichts davon", gab Callum zu.

„Ich wollte was für ihn tun, deshalb. Und ich hab's erst verraten, als ich wirklich deine Adresse gekriegt habe." Jem war jetzt nicht sicher, ob er weiter reden sollte, oder ob das Callum übernehmen würde.

„Das verstehe ich nicht. Wieso hast du nicht nach mir gesucht, Cal?" Rory schaute ihn fragend an.

„Ich ... wusste nicht wie."

Wieder so eine seltsame Antwort. „Die Hauptsache ist, dass du jetzt hier bist", fand Rory jetzt wieder den Bogen und tat, als wäre das eine ausreichende Antwort. Callum merkte das natürlich und im selben Moment fand er sich feige und völlig besengt. Das war sein Bruder, das war Rory, also würden sie natürlich alles teilen müssen.

„Die Typen, bei denen du warst, waren die in Ordnung?", begann er jetzt. Vielleicht wüsste er, was er selbst sagen sollte, wenn Rory anfing. Rory wunderte sich wieder über die Wortwahl. Er war nicht bei Typen gewesen. Das waren Pflegeeltern. „Zuerst war es schwierig. Ich war ja schon sechzehn und hab nicht eingesehen, warum man uns trennt. Aber da konnten Dawn und Patrick nichts dafür. Die waren okay. Sie sagten, ich hätte Glück, dass ich zu ihnen kam und nicht im Heim bleiben musste. Sie hat mir geholfen, dass ich den Schulabschluss schaffe und er war Hausmeister und hat ständig was repariert. Hab 'ne Menge von ihm gelernt. Schlimm war's, als du bei den Besuchen so seltsam wurdest und dann irgendwann hieß es, du seist abgehauen. Die sind mit mir sogar zu Dad gefahren, weil ich dachte, du wärst aus irgendeinem bescheuerten Grund vielleicht bei ihm."

„Oh, shit", warf Callum ein, als sein Vater erwähnt wurde.

Rory hielt inne und nahm einen Schluck Kaffee. „Ja, shit. Der Alte war so besoffen, dass er mich kaum erkannt hat. Und dann hat er rumgeschrien und wir sind nichts wie weg." Rory würde nicht sagen, dass sein Vater gedroht hatte, ihm und erst recht Callum den Hals umzudrehen, wenn er dort je wieder auftauchte.

„Weißt du, was jetzt ist?", fragte Callum. Es war klar, was er meinte.

Rory schnaubte verächtlich durch die Nase. „Wäre mir scheißegal, wenn ich's nicht wüsste, aber die vom Jugendamt haben irgendwann angerufen, um zu sagen, dass er tot ist. An seiner eigenen Kotze erstickt."

Callum nickte nur. Was sollte er sagen? Passte irgendwie. „Ist... besser so." Jem drückte seine Hand.

Rory nickte auch nur. Da waren sie sich einig. „Ich bin heilfroh, dass es dich noch gibt. Aber was ist da gewesen? Warum bist du weggelaufen? Du konntest dir doch denken, dass ich mir riesen Sorgen mache und ich wäre doch irgendwann achtzehn geworden."

Callum fuhr innerlich zusammen. Da waren sie, die Fragen, die er fürchtete. Und nun?

„Ich glaube, wir sollten dem Hund was geben", fuhr Jem wenig subtil dazwischen. Cal sah ihm in die Augen. Netter Versuch.

„Was wird das? N Ablenkungsmanöver?" Rory war natürlich nicht von gestern. Er setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. Er war der große Bruder, ihm konnte man alles sagen. „Kann doch nicht so schlimm sein, oder?", schob er dann nach, weil ihn jetzt das ungute Gefühl beschlich, dass es genau das war. Schlimm. „Wie schlimm?", fragte er dann.

„Zum Weglaufen schlimm und zum Wegbleiben schlimm", brachte Callum mit kleiner Stimme hervor. Es war soweit.

Verführt, verirrtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt