38. Sankt Sandrinas Verführung

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Liebes Tagebuch,
John ist tot. Er hat sich erschossen. Kurz nachdem Bärensteins Männer seine neugeborene Tochter abgeholt hatten. Ich kann mich an John erinnern, wie er damals war, als wir beide noch Kinder waren. Wie Mutter mit uns geschimpft hatte, als wir den Kuchen gestohlen und vor dem Abendessen verschlungen hatten. Er war der große Bruder den ich nie hatte, er war gutmütig und liebevoll. Er hat mich geliebt, das weiß ich genau. Ich kann mich an seine Tränen erinnern als Mutter gestorben ist und wie er mich festgehalten hatte, als niemand anderes es konnte. Nun habe ich auch ihn verloren. Werde ich meine Schwester als nächstes verlieren? 
Meine kleine Schwester Emma, sie ist erst 12 Jahre alt. Sie ist hübsch und wird demnächst zur Frau. Ich musste ihr erstes Blut verstecken um jeden Preis, denn unser Bruder wird keine Sekunde länger auf einen weiteren mit der Gabe beschenkten Henotello warten. Ich war vierzehn und wünsche meiner Schwester zumindest noch diese zwei Jahre. Sie soll noch ein wenig Kind sein, bevor sie selbst ein Kind in sich trägt. Vor sechs Tagen habe ich meinen zweiten Sohn auf die Welt gebracht. Fuchs hat ihn Wolfgang genannt. Mir ist das gleich. Ich empfinde nichts für dieses Kind, seine Empfängnis hängt wie ein Steinbrocken an meinen Füßen, ertränkt jede Liebe, die ich vielleicht für mein Kind empfunden hätte. Schon jetzt ist Fuchs wieder erregt und freudig ein weiteres Kind zu zeugen. Ich kann nicht atmen, ich blute viel. Noch habe ich es niemanden gesagt, bin mir nicht sicher ob ich das will.
Möglicherweise werde ich durch dieses bluten unfruchtbar.
Möglicherweise hätte ich dann endlich Ruhe.
Deine Briana

Staunend sah Kyrie aus dem Fenster des fahrenden Autos. Sankt Sandrina war unglaublich, sie hatte so etwas zuvor noch nie gesehen. Alle Häuser waren sauber und glänzten. Es gab Hochhäuser aus Metall und Glas. Ein öffentliches Verkehrsnetz und viele Menschen. Sehr viele. Verglichen mit dem Dorf aus dem Kyrie kam schien ihr die Stadt dicht bevölkert und laut. Neben ihr im luxuriösen Auto saß Loke Bärenstein. Er hatte darauf bestanden das Auto vom Bahnhof aus selbst zu fahren. Es war keiner der üblichen Transporter mit denen das Militär seine Leute hin und her schickte, dieses Auto war tatsächlich für private Zwecke gedacht.

Mit schwarzen Lederbezügen und einem Armaturenbrett aus feinstem polierten Holz konnte der Wagen nur einer wichtigen Person gehören.

Ebenso schön war ihr Abteil in dem Zug gewesen, der sie vom Lager nach Sankt Sandrina gebracht hatte. Sie war noch nie zuvor mit dem Zug gereist und liebte das rhythmische klopfen der Schienen sofort. Neben Loke, dessen dunkelblauer maßgeschneiderter Anzug seine gute Figur betonte, fühlte Kyrie sich etwas schäbig. Noch im Lager hatte sie ihren Rock und die Bluse wieder gegen die praktische Kleidung eines Soldaten getauscht.

Sie wäre lieber in den schöneren Sachen geblieben, nur waren diese für einen Auftrag vielleicht ungeeignet. Hinter ihnen saßen Stella, Darwin und zwischen ihnen ein Bodyguard. Die Stimmung war eine gute, keiner der beiden Henotellos war je zuvor in der Hauptstadt ihres Landes gewesen und staunten ebenso interessiert wie Kyrie. Zeus, Antonio und ein paar andere saßen in einem zweiten Transporter hinter ihnen. Es dauerte nicht lange da blieb Loke vor einer Kaserne stehen. Zwei Wachen standen vor dem Eisentor und hielten mit stoischer Miene ihren Dienst ab. Hinter dem Tor stand ein viereckiger, brauner Plattenbau. Nicht schön aber offensichtlich legte man bei einem militärischen Gebäude mehr Wert auf Funktionalität als Ästhetik.

"Das ist die Kaserne Fuchs. Stella, Darwin, das hier ist eure Station. Ihr werdet hier untergebracht sein bis wir euch brauchen."

Ohne ein Wort der Wiederrede standen beide auf und kletterten aus dem Auto. Neugierig sah Kyrie aus dem Fenster und erkannte das nicht nur ihre Begleiter gebeten wurden auszusteigen. Auch Zeus, Honora und Antonio warteten bei dem Eisentor auf Einlass. Kyrie hatte darauf bestanden das Mädchen mitzunehmen. Möglicherweise würde sie ihnen noch nützliche Informationen bieten oder sich als Köder für Rebellen eignen. Verwundert wandte Kyrie sich an ihren Fahrer.

Kyrie- Nebel des KriegesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt