Ein Versprechen

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Als Fidelia einige Wochen später an einem sonnigen Augustmorgen die Augen aufschlug, stand ihr Gepäck schon fertig neben der Tür. Die räkelte sich und beobachtete eine Weile die Vögel vor ihrem Fenster. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie kleinen Elfen hinterherjagten.
Ein zartes Klopfen unterbrach die morgendliche Ruhe.

„Miss Fidelia? Ihre Frau Mutter wünscht, dass sie sich ankleiden und hinunterkommen. Sie möchte bald aufbrechen."
In der Tür stand ein kleiner gebückter Hauself, dessen Gesicht von zahlreichen dünnen Narben übersät war. Er war einer der letzten Hauselfen, der im Hause der Familie Nott noch dienten und Fidelias Mutter behandelte ihn wie ein Stück Dreck.
„Danke Mortimer, ich werde gleich kommen, sagst du ihr das bitte?"
Der kleine Hauself erlaubte sich ein zaghaftes Lächeln, nickte eifrig und mit einer kleinen Verbeugung wieder aus dem Zimmer.
Eliza hatte heute ihren freien Tag und so war Fidelia froh, dass sie heute nach Durmstrang Abreisen würde, und nicht mit ihrer Mutter allein im Haus sitzen musste.

Wie viele Zaubererfamilien hatten auch die Notts eine Zofe wie Eliza eigentlich nur als Tarnung eingestellt. Für eine reiche Familie ziemte es sich nicht, in der Stadt ohne eine Dienerin herumzulaufen. Zudem konnten sie ja wohl kaum einen Hauselfen in die Stadt schicken, um gelegentlich Besorgungen zu machen.

Fertig angekleidet kam Fidelia im Salon bei ihrer Mutter an, die schon ungeduldig auf sie wartete.
„Ach, da bist du ja endlich. Hier dein Umhang, wir müssen wirklich langsam los.", sagte Fidelias Mutter und drückte ihr einen schwarzen Seidenumhang in die Hand.
Fidelia hasste die Anreise nach Durmstrang, es war einfach so entsetzlich weit. Das Institut lag an einem der nördlichsten Punkte Europas, der nächst nähere Ort war Mehamn, eine kleine Gemeinde mit knapp 690 Einwohnern. Durmstrang lag noch etwa 10 Kilometer weiter nördlich, direkt an der Küste der Barentssee in einer türkis blauen Bucht.
Fidelia würde an einem Tag bis Tana, eine größere Stadt in Norwegen, etwa 100 Kilometer vom Durmstrang-Institut entfernt, reisen - hauptsächlich per Portschlüssel, was sie abgrundtief hasste. Sie hasste das Gefühl des Verschwindens, dieses Gefühl des Fallens während das Nichts an einem zu zerren schien.
Doch wäre sie auf Muggelweise gereist, dann wäre sie wohl mehrere Wochen unterwegs gewesen. Vor ein paar Jahren, bevor sie und ihre Mutter nach Trondheim gezogen waren, hatten sie in Deutschland gelebt. Ihre Mutter hatte schon damals darauf bestanden, dass Fidelia Durmstrang besuchte, und so hatte ihre Anreise damals eine ganze Woche gedauert.

Missmutig begab sich das Mädchen in den Garten des Anwesens, gefolgt von drei Hauselfen, die ihre Koffer schleppten. Im Garten stand ein anmutiger Pavillion mit kompliziert geschreinerten Holzbögen. Ein Muggel aus dem Nachbardorf hatte ihn angefertigt und ganze Arbeit geleistet. In der Mitte des sechseckigen Pavillons stand ein kleiner, eiserner Tisch mit malerisch verschnörkelten Tischbeinen. Auf ihm stand ein simpler Metallkelch, der gegen den Pavillon und den Tisch schon fast plump wirkte.

„Ach, jetzt ist es wieder soweit", seufzte Fidelias Mutter mit einem wehmütigen Unterton, den Fidelia ihr nicht abkaufte. „Hab eine gute Reise. Wir sehen uns nächstes Jahr mein Kind."
Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange und richtete noch einmal den Umhang ihrer Tochter.
„Ja, bis nächstes Jahr Mutter."
Mit diesen trockenen Worten drehte sich das Mädchen zu dem Metallkelch um, packte ihn fest mit beiden Händen und war in der nächsten Sekunde verschwunden. Die drei Hauselfen mit ihrem Gepäck apparierten ihr hinterher und innerhalb von fünf Sekunden war der Garten bis auf Fidelias Mutter wieder menschenleer.

_________

Einige Stunden später, am frühen Nachmittag, klatschte Fidelia unsanft auf harten Boden auf. Sie saß auf dem Boden einer Bahnhofshalle, die in einen massiven Felsen hineingeschlagen wurde. Der Zug der sie nach Durmstrang bringen würde, stand schon auf den Gleisen.
Die Halle war verhältnismäßig klein und die Wände waren roher, kantiger Stein. Nur der Boden der Halle hob sich ab, er bestand aus spiegelglattem, poliertem Mamor und bildete einen wunderschönen Kontrast zu den rauen Decken.

Neben Fidelia erschienen die drei Hauselfen, die ihr mit dem Gepäck gefolgt waren. Während zwei von ihnen die Koffer zum Gepäckwagon des Zuges schleiften, gesellte sich Mortimer zu Fidelia.
„Es tut mir leid, Mortimer."
„Was denn Herrin?", fragte der alte Hauself verdutzt.
„Das ich dich wieder allein lassen muss mit meiner Mutter. Sie kann eine grausige Person sein." Mortimer nickte und blickte seufzend zu Boden.
„So ist nun mal der Lauf der Dinge, Herrin. Nicht jede Herrin ist wie ihr, nicht jede Herrin ist nett."

Der Zug zischte und pustete eine dicke weiße Wolke in die Halle. Um die zwei tauchten immer mehr Jugendliche mit ihren Hauselfen auf.

„Wenn ich heim komme Mortimer, dann lass ich dich frei."
Erschrocken blickte der Hauself zu seiner Herrin auf.
„Wie meint ihr das?"
„Ich lasse dich frei. Ich werde dir Kleidung schenken. Das verspreche ich dir hoch und heilig.", sagte Fidelia, während sie sich zu ihm hinunter kniete. Der Hauself hatte ganz große Augen bekommen.

„Das würdet ihr für mich tun?" Eine kleine Träne rollte über sein runzliges Gesicht, doch er wischte sie schnell weg.
„Versprochen."
Sie nahm ihn in den Arm.
„Ich werde euch vermissen, Herrin.", flüsterte Mortimer ins Ohr.
„Ich dich auch Mortimer."

Sie erhob sich, winkte ihm noch einmal zu und stieg dann in den Zug nach Durmstrang.
Der Zug war nobel, die Sitzbänke in den Abteilen waren mit dickem Samtstoff überzogen und kleine goldene Laternen erleuchteten den Zug von innen. Fidelia war immer wieder aufs neue von dem Zug fasziniert - was wohl daran gelegen haben mochte, dass die Schüler jedes Mal, wenn sie aus dem Zug ausstiegen mussten sie sich einem Vergessenszauber unterziehen.

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