Lila

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Mit zittrigen Fingern warf Gellert sich seinen Pelz über und zog die letzte Schnalle seiner Festuniform fest. Über den Sommer wurde in Durmstrang nicht geheizt, doch schon im frühen Herbst war das Gebäude eisig kalt.

Skeptisch betrachtete er sich in einem großen Spiegel, der neben seinem Bett stand und zog den roten Stoff seines Wintermantels zurecht. Seine Wangen prickelten von der kalten Luft und sein Atem verwandelte sich vor seinem Mund in kleine grau-weiße Wölkchen.

Gellert hatte ein Zimmer für sich allein, was für die Schüler des Hauses Ulvensom gar nicht so untypisch ist. Er genoss die Stille und verbrachte außerhalb des Unterrichts so gut wie immer seine Zeit allein in seinem Zimmer. Der Raum war großzügig geschnitten und lag im Westturm des Hauses Ulvensom. Die Dunkelheit war bereits eingekehrt und nun malten die Flammen der Kerzen auf seinem Schreibtisch lange Schatten an die Wände. In einer Ecke des Zimmers brannte in einem Kamin ein kleines Feuer, dass er gleich nach seiner Ankunft entfacht hatte. Auf seinem Tisch stapelten sich Bücher und auch die Regale waren vollgestopft mit Bänden über die verschiedensten Dinge, von "Das Leben eines Aurors" über "Sechzig magische Schneckenarten" bis "Zauberhafte dunkle Artefakte", und Gellert hatte sie alle gelesen - mehrmals.

Obwohl der Raum so vollgestopft war, wirkte er dennoch sehr kühl und wenig gemütlich. In der dunkelsten Ecke des Zimmers stand Gellerts Bett, daneben ein Wasserkessel dessen Inhalt gefroren war.

Gellert hatte die Kälte in Durmstrang immer gemocht. Im Winter war es draußen so kalt, dass jeder Atemzug wie eine kühle Klinge durch den Rachen schnitt und sich an den Wimpern kleine Eiskristalle bildeten. In Durmstrang galt das Motto "Wer den ersten Winter übersteht, übersteht jeden.", und Gellert hatte die stille und gefährliche Jahreszeit lieben gelernt.

Er rieb seine Hände aneinander um sie zu wärmen, dann griff er nach einem hölzernen Kamm und brachte seine Haare in Form, bis sie gerade und perfekt gescheitelt sein Gesicht umrahmten. Zufrieden warf er einen letzten Blick in den Spiegel und ging zu seinem Schreibtisch. Dort stand der goldene Käfig seiner Runespoor, die faul darin herumlag und ihn mit halbgeöffneten Augen anblickte.

"Ihr kommt hier oben allein klar, oder?", fragte er, während er der Schlange klein gehackte Mäusestücke in den Käfig warf, auf die sie mehr oder weniger motiviert zuschlängelte.

"Aber natürlichssss", zischte einer der Köpfe. Kurz überlegte Gellert, welcher genau es nun war, aber mit einem Blick auf die Uhr über seiner Tür verwarf er den Gedanken schnell.

Er eilte hinüber zum Kamin und warf noch ein paar große Holzscheite ins Feuer, dann verließ er forschen Schrittes das Zimmer.

*

Die Gründerhalle war proppenvoll als Gellert ankam und eilig zwängte er sich an einigen Schülern vorbei, die alle durcheinander redeten. In der Halle waren wie zu jedem Anfang eines neuen Schuljahres vier lange Tischreihen aufgestellt worden, an der vorderen Hälfte, direkt vor der Tafel der Lehrer, saßen die Jungen und an der hinteren Hälfte saßen die Mädchen.

Der Boden der Gründerhalle bestand aus großen, massiven Steinblöcken die man direkt in den Felsen auf dem Durmstrang steht, gehauen hatte. Aus ihm heraus ragten acht riesige, feingearbeitete Steinsäulen die die imposante Decke der Halle stützten. Diese war über und über verziert mit alten Malereien die die Entstehung Durmstrangs und der Magie selbst darstellten. Sie befanden sich ständig in Bewegung und nie sah das Kunstwerk aus wie am Tag davor. Manchmal rutschten Figuren aus der Malerei an den großen Säulen oder den Wänden herab und unterhielten sich mit den Schülern über die Probleme im Alltag eines Bildes. Auch an den Wänden prangten Deckenhohe Portraits von ehemaligen Schulleitern und der Gründerin Nerida Vulchanova, welche mit strengem Blick das Geschehen in der Halle verfolgte.

Gellert eilte zu seinem gewohnten Platz in der vorderen Hälfte der Tafel und ließ sich bei einigen bekannten Gesichtern nieder. Wie gewohnt wurde am Tisch des Hauses Ulvensom nicht gerade viel geredet, Jura, ein Junge der nebenan von Gellert wohnte, hatte sich wie gewohnt ein Buch mitgebracht und den Rest des Geschehens ausgeblendet.

Gellert stieß ihn an und mit einem kurzen Zucken schreckte der Junge hoch.

"Oh, Hallo Gellert!", freute sich Jura und klappte sein Buch zu.

"Magische Schiffe?", fragte Gellert trocken mit einem schnellen Blick auf den Buchdeckel, "Das hab ich schon vor zwei Jahren gelesen."

"Ja, das kann sein, aber im Gegensatz zu dir habe ich zu der Zeit als du in der Bibliothek gehockt hast mein Leben gelebt und Sylvia Bernardsson geküsst.", antwortete Jura spottend und Gellert konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

"Die Geschichte werde ich dir sowieso nie glauben, Sylvia Bernardsson, dass ich nicht lache!", grinste Gellert und klopfte seinem Freund auf die Schulter.

"Also, wie war dein Sommer?", fragte Jura während er das Buch in einer kleinen Tasche verstaute, die er dann gleich wieder unter die Tafel warf.

"Mein Vater hat mir eine Runespoor geschenkt. Sonst ist eigentlich nichts passiert." Noch während er diesen Satz aussprach dachte er an das schöne Mädchen, dass er kennengelernt hatte, doch er erwähnte es gegenüber Jura nicht - diese Art von Beziehung pflegten die beiden Jungen nicht.

"Eine Runespoor? Wahnsinn, so eine wollte ich auch schon immer haben! Die musst du mir unbedingt mal zeigen!"

Gerade wollte der begeisterte Jura weiterschwärmen, da wurde er von einem lauten Knallen unterbrochen. Die große Eingangstür der Halle war schon vor einigen Minuten geschlossen worden und nun waren die hohen und schweren Flügel der Tür wieder geöffnet worden und rasteten mit einem lauten Knallen in ihre Halterung ein. In diesem Moment erloschen die Kerzen in der Gründerhalle und die einzige Lichtquelle war das Podium der Lehrer, wo noch einige Kerzen brannten. In der Tür hatten sich eine Schaar Schüler versammelt, die nun hinter einem großen Mann in die Halle einzogen. Sie alle trugen eine schwarze Festuniform und jeder hatte in eine Kerze in den Händen, die er vor sich hertrug.

"Sieht aus als wären die Erstklässler dieses Jahr wieder fast nur Jungs", raunte Jura Gellert zu und dieser nickte.

Flackernd schritt der Zug durch den mittleren Gang der Tafeln auf das Podium am anderen Ende der Halle zu. Neugierig folgten Gellerts Augen der Schar und plötzlich blieb sein Blick am Tisch der Hjorttørr hängen. War sie das? Konnte das sein? Dort saß ein wunderschönes Mädchen, sie sah Fidelia sehr ähnlich, doch sie hatte silbrig-graues Haar, dass ihr nur bis zu den Schultern ging. Während die Schar der Erstklässler auch am Tisch der Ulvensoms vorbeikam, versuchte Gellert immer wieder zwischen den schwarzen Festuniformen einen Blick auf das Mädchen zu erhaschen.

Als hätte sie sein Starren bemerkt, blickte sie ihm plötzlich durch den ganzen Raum direkt in die Augen. Gellert glaubte von der Entfernung eine leicht lilane Farbe in ihren Augen zu erkennen - Sie sah anders aus, ganz anders, aber er war sich sicher.

Fidelia, dachte er, Fidelia Nott.

Grindelwald Chroniken - Asche zu Asche Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt