Metamorphmagus

316 24 10
                                    

Gelangweilt kritzelte Gellert kleine unordentliche Zeichnungen neben sein Buch auf den alten, klapprigen Tisch an dem er saß. Er war gerade mal zehn Minuten hier und schon hielt er es nicht mehr aus. Inzwischen war es fast zur Gewohnheit geworden, dass er seine Sonntage damit zubrachte, in Professor Tveits großräumigen Büro dahinzuvegetieren und seine "Strafe" für seine alltäglichen Vergehen absaß. Er hatte aufgehört mitzuzählen, wie oft er schon hatte nachsitzen müssen - für seinen Geschmack eindeutig zu oft, was allerdings den lächerlichen Regelungen der Schule geschuldet war.

Gerade als Gellert überlegte seinen Kopf auf der Tischplatte abzulegen um ein wenig zu schlafen, da ihm einfach nichts besseres einfiel, da öffnete sich die Tür und ein paar vereinzelte Nachzügler betraten den Raum. Normalerweise hätte er sie ignoriert, es waren eh die üblichen Verdächtigen, doch diese Woche war noch jemand anderes unter ihnen.

Plötzlich hell wach beobachtete er das Mädchen mit den wallenden, lockigen roten Haaren und den grünen Augen, die sich vorne an Professor Tveits Pult kurz für ihre Verspätung entschuldigte.

"Wer sind Sie bitte?", fragte er mürrisch und verwirrt.

"Fidelia Nott, Professor Tveit."

"Gute Güte, Sie sollten sich langsam mal mit sich selbst einigen, Sie können doch nicht Tag für Tag mit anderen Haaren und Augen auftauchen, da wird man ja noch verrückt. Setzen Sie sich", fertigte er sie genervt ab.

Sie ist es also wirklich, dachte Gellert und spürte eine ungewohnte Nervosität in sich aufsteigen. Als sie sich zur Klasse umdrehte und ihn ansah, hielt sie kurz inne - ob sie ihn wohl auch wiedererkannte? - dann ließ sie sich an dem Tisch neben Gellerts nieder.

Die Aufregung war in seine Kehle gekrochen, wo sich langsam aber sicher ein Kloß bildete, er tippte mit der Spitze seines Bleistiftes nervös auf dem Einband seines Buches herum und biss sich auf die Lippe. Sei kein Idiot, dachte er.

"Hey, na wenn das mal kein Zufall ist." Er hatte sich zu ihr hinübergelehnt und versuchte sein Wispern nicht aufgeregt klingen zu lassen. Sie sah in kurz etwas verunsichert an, dann lächelte auch sie.

"Ja, wer hätte es gedacht. Wie hast du mich erkannt?", wisperte sie zurück.

Gellert stockte. Wie konnte er ihr das erklären, ohne gnadenlos unheimlich zu klingen?

"Ich... ich glaube ich hatte es irgendwie im Gefühl, keine Ahnung. Aber du siehst anders aus als sonst. Hast du dir die Haare gefärbt oder..", versuchte er lässig zu antworten.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Lächeln und sie unterdrückte ein leises Kichern.

"Nein, ich bin ein Metamorphmagus."

Das erklärte natürlich einiges. Gellert hatte die Vorstellung eines Metamorphmagus immer etwas unheimlich gefunden - jeden Morgen in den Spiegel zu blicken ohne zu wissen, wie man eigentlich aussah oder wessen Gesicht man gerade trug. In seinen Gedanken versunken musterte er jedes Detail ihres Gesichtes so genau, dass er sich sicher war, es überall wiederzuerkennen.

"Ist alles in Ordnung bei dir?", unterbrach sie sein Starren flüsternd und er schreckte hoch.

"Ja, ja ich... ich finde das einfach nur sehr interessant", gab er leise zurück und der Kloß in seinem Hals wurde größer. Während er krampfhaft überlegte, wie er nun ein etwas lockereres Gespräch anfangen konnte, fiel ihm gar nicht auf, dass er Fidelia wieder eindringend betrachtete - manch einer hätte es durchaus auch als Starren bezeichnet.

Auch Fidelia hatte dies gemerkt und wollte schon schüchtern den Kopf wegdrehen, doch dann besann sie sich und blickte ihm direkt ins Gesicht. Ihre Augen begannen die Farben zu ändern, erst langsam von blau zu grün zu braun, doch dann wechselte sie immer schneller zwischen den Farben hin und her, ihre Augen wurden lila, gelb, rot und schwarz.

"Das ist wirklich unglaublich - du bist wirklich unglaublich.", flüsterte Gellert ihr leise mit pochendem Herzen zu und eine leichte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus, die wohl ausnahmsweise nicht von ihr selbst beabsichtigt war.

"Ja, es gibt Tage, da macht es einfach nur Spaß", antwortete sie leise, dann blinzelte sie einige Male und ihre Augen wurden wieder grün. "Es ist sehr hilfreich wenn man jemandem aus dem Weg gehen will", fügte sie hinzu und entlockte Gellert damit ein Schmunzeln.

"Aber... weißt du denn wie..", begann er, doch dann schüttelte er den Kopf über seine eigene, unhöfliche Frage.

"Wie ich wirklich aussehe?", beendete sie dafür seinen Gedanken und er nickte. "Nein. Ich weiß es nicht. Ich ändere mein Aussehen seit ich denken kann und meine Mutter besitzt nicht viele Fotografien oder Bildnisse von mir als kleines Kind. Aber irgendwann einigt man sich irgendwie mit sich selbst auf ein eher dauerhaftes Aussehen, sonst wäre ich ja niemand."

Gerade als Gellert etwas antworten wollte, unterbrach ihn Professor Tveit.

"Halten Sie an sich, Mr. Grindelwald. Wir bevorzugen hier eine Atmosphäre der Ruhe und des Lernens. Wenn Sie jedoch der Meinung sind, Sie hätten dies nicht nötig, Junger Mann, dann können Sie gerne die restliche Zeit damit verbringen, in die Luft direkt vor Ihnen zu starren, solange Sie es dabei schaffen Ihren Mund zu halten!"

Professor Tveit hatte sich unbemerkt von Fidelia und Gellert direkt vor ihnen aufgebaut und hatte seine kleine wütende Tirade mal wieder in einem viel zu lauten Ton durch den niedrigen Klassenraum hallen lassen, sodass die beiden Schüler beim ersten Wort vor Schreck zusammengezuckt waren. Ein paar Spucketropfen hatte der Mann ebenfalls auf Gellerts Tisch und dem darauf liegenden Ledereinband verteilt, die der Junge mit einem hochgezogenen Ärmel seiner Uniform unauffällig abwischte während er "Ja Professor", antwortete und demütig zu Boden blickte.

Der Professor bedachte auch Fidelia noch einmal mit einem ernsten Blick, dann machte er sich wieder auf den Weg zu seinem Lehrertisch, an dem er sich wieder hinter seiner Zeitung versteckte und vermutlich versuchte, die armselige Atmosphäre, die die Nachsitzenden verbreiteten, irgendwie auszublenden.

Etwas enttäuscht wandte Gellert sich dem Buch auf seinem Tisch zu. Der Einband war aus einem dunkelbraunen, rissigen Leder und tiefe Furchen liefen darüber - manchmal fuhr er mit dem Finger darüber und stellte sich vor, was dem Tier wohl passiert sein mochte, bevor seine Haut als Einband für sein Lieblingsbuch geendet hatte. Ein Seitenblick auf Fidelia verriet ihm, dass sie inzwischen ein Heft ausgepackt hatte und nun Notizen aus einem Lehrbuch über Verwandlung notierte.

Eifrig, eifrig, dachte er, irgendwie süß.

Dann schlug er das Buch vor sich vorsichtig auf. Die Seiten des Bandes, die wohl bereits mehrere Jahrzehnte auf ihrem Buckel trugen, waren gelb angelaufen, die Ränder der Seiten waren abgegriffen und von kleinen, sehr feinen Rissen durchadert. In vergilbter Tinte stand auf der ersten Seite des Buches "Für Gellert, zum 7. Geburtstag.". Die Schrift war schmal, eng und wenig schnörkelig, die Buchstaben sahen aus, als hätte sie jemand mit zittriger Hand niedergeschrieben, dessen Kraft und Konzentration schon lange nicht mehr zum Schreiben ausreichte. Wie gewohnt fuhr Gellert kurz über den Schriftzug, dann blätterte er weiter.

Auf der oberen rechten Ecke der nächsten Seite hatte er ein kleines Zeichen gemalt, als er vielleicht neun Jahre alt gewesen war. Die Striche seiner Feder waren noch ungeschickt gewesen und die Spitze hatte sich viel zu weit in das Papier gedrückt, sodass man nun das Zeichen durch die fasrige und abgefasste Oberfläche der Seite deutlich spüren konnte.

Ein kurzes Lächeln flog über seine Lippen, dann blätterte er erneut um und begann - vielleicht zum hundertsten Mal - lesen: "Es waren einmal drei Brüder..."

Grindelwald Chroniken - Asche zu Asche Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt