Kapitel Acht: Adissa

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Das Jahr der Schlange


Es war gut für die Stimmung im Tempel, zu wissen, dass die Flüchtlinge schon bald das Gebäude verlassen würden. Es herrschte noch immer Misstrauen, denn ein Spion in den eigenen Reihen zu wissen, war niemals beruhigend. Doch nun sollten sie Zeit genug haben, um jeden weiteren Verräter ausfindig zu machen. Sollten die verbleibenen Spione dem König nun gern übermitteln, dass die Mönche seinem Wunsch nachkamen. Damit sollte er zufrieden sein.
Die Unruhe im Tempel hatte dazu geführt, dass man die Wachposten aufgestockt und die Schichten der Wächter verlängert hatte. Adissa hatte in den vergangenen Nächten kaum Zeit für Schlaf gefunden und war nun erleichtert, dass sie zwischen dieser und der nächsten Schicht mit neun Stunden noch genug Zeit zur Verfügung hatte, um seit Längerem mal wieder in Ruhe schlafen zu können.
Sie rollte eine Decke zusammen, die dick genug sein sollte, um die armen Leute aus Hariq in den kalten Nächten warm zu halten. Sie platzierte sie in einer der Taschen, die man morgen früh den Kamelen umschnallen würde. Die Karawane würde bei Sonnenaufgang aufbrechen. Die Kamele, die die Bürger tragen würden, kamen aus Mughbir und würden in der Nacht ankommen.
Als Adissa die letzte Satteltasche vorbereitet hatte, legte sie die Arbeit nieder und verließ den Stall. Ihre Glieder schmerzten, denn Meister Berhane hatte verlangt, dass auch ihren tierischen Gästen ein wundervoller Aufenthalt gewährleistet wurde, und so hatten die Wächter die Ställe ausmisten und ausreichend Nahrung für die Trampeltiere verteilen müssen. Die ganze Arbeit hatte zur Folge, dass ihr Stroh in Teilen ihres Gewandes steckte, bei denen sie sich fragte, wie es dort hinein gelangen konnte. Auch ihre Haare -von denen die meisten Tempelbewohner bisher der Auffassung gewesen waren, dass es sie nicht gab- hatten sich aus der Frisur gelöst und sich mühevoll einen Weg ins Freie erkämpft und lugten nun siegreich unter ihrem Kopftuch hervor.

Als sie in der Nacht erwachte, kam der Kommandant der Tempelwächter, ihr Bruder Hodari, herein gestürmt. ,,Alle Mann aufstehen!", brüllte er durch den Raum. ,,Wir werden angegriffen!" Adissa stand bereits neben ihm, bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte.
,,Wer greift uns an?", fragte sie und schnallte sich den Gurt ihres Schwertes um.
,,Unbekannt. Sie kämpfen unter keinem Banner", antwortete er und nickte einer Wächterin zu, die sich zwischen ihnen aus der Tür schob. ,,Es sieht nicht gut für uns aus. Wir sollten uns auf einen Rückzug vorbereiten"
Adissa bedachte ihn mit einem finsteren Blick. ,,Wenn Atun uns beisteht, werden wir den Tempel nicht aufgeben müssen", erwiderte sie. Er packte sie bei der Schulter und zog sie hinaus auf den Gang.
,,Wir müssen die Mönche hier raus bringen", erklärte er und lief neben seiner Schwester den Gang hinauf, aus den Quatieren und in die Vorhalle. ,,Wenn Atun uns beisteht", wiederholte er sie, ,,werden wir alle das hier überleben. Ich möchte, dass du dich um die Geistlichen kümmerst"
Kaum hatte er die Tür zum Saal aufgestoßen, verstand sie, warum er den Tempel bereits aufgegeben hatte. Es waren etliche Soldaten. Ihre Waffen glänzten im flackernden Licht der Fackeln und der würzige Duft von Räucherstäbchen wurde von dem Geruch nach Blut überlagert.
,,Hodari", rief sie ihrem Bruder nach, als er bereits mit gezogener Schwertklinge in den Saal stürmte. Er trat an die Seite eines anderen Tempelwächters und schlug dessen Gegner mit einem einzigen Hieb nieder. Er war ein beeindruckender Mann. Adissa hatte ihn immer um seine Besonnenheit und seine Stellung als Kommandant beneidet. Obwohl sie es versucht hatte, hatte sie ihm nie ebenbürtig sein können. ,,Ich will kämpfen! Soll einer der Jungen die Mönche rausschaffen", schnaubte sie, als sie zu ihm aufschloss. Sie streckte einen der feindlichen Krieger nieder.
,,Das war keine Bitte, Schwester", erwiderte Hodari streng. ,,Das war ein Befehl deines Kommandanten"
Sie schluckte und wehrte den Schlag eines Soldaten ab. ,,Gut", brachte sie angestrengt heraus, durchstach die Rüstung des Angreifers und wendete sich ab.
,,Gib auf dich Acht, Adissa", sagte Hodari und sah ehrlich besorgt aus. Seine Angst beleidigte sie. Er sollte wissen, dass sie auf sich aufpassen konnte. Doch obwohl ihr Stolz ihr zu flüsterte, dass sie gekränkt sein sollte, kamen andere Gefühle in ihr hoch.
,,Du auch, Bruder", erwiderte sie und nickte ihm zu. ,,Möge Atun dir Kraft geben"
Sie bahnte sich ihren Weg durch die feindlichen Linien und kämpfte sich bis zu den Treppen durch. Der Boden schimmerte rot vom Blut ihrer Kameraden.

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