Prolog

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Kälte umgab die kleine Drachin, kroch unter ihre bleichen Schuppen wie eine listige Schlange. Das Sonnenlicht hatte ihre Augen nie berührt, so waren ihre Pupilen ohne jegliche Scheu weit aufgerissen. Angespannt lauschte sie. Ihre kleinen, zarten Ohren glitten hin und her, bewegten sich schnell und nervös in alle Richtungen. Etwas war anders, das konnte sie spüren. Sie sah es in den seltsamen Schatten, die in der Ferne tanzten und hörte es an der unheimlichen Stille, die die enge Höhle verschluckte. Doch für die kleine Drachin gab es nichts außer den alten Steinen, dem modrigen Geruch und der staubigen, abgestandenen Luft. Neugierig öffnete sie ihr Maul und ließ die ihr so vertrauten Düfte über ihre Zunge streichen. Doch heute mischte sich ein neuer, fremdartiger Geruch in die der anderen. Er war nicht freundlich, nein, er war seltsam würzig und stach in die Nase der Kleinen. Er ließ sie zurückzucken und beschleunigte ihren Herzschlag. Sie wusste er bedeutete Gefahr, das war tief in ihrem Blut verankert. Ängstlich trat die Drachin einen Schritt zurück und presste sich dabei langsam an den Boden, die Ohren gespitzt, die kleinen, untrainierten Muskeln angespannt. Der Ruf eines Vogels erklang. Der Drache hatte ihn schon oft gehört, doch diesmal war sein Ruf schrill und voller Panik. Seine Federn schienen an die Hölenwände zu schlagen, so laut war sein Flügelschlag, als er sich in die Lüfte erhob. Dann kehrte wieder Stille ein. Unsicher ob sie erleichtert oder nur noch nervöser sein sollte hob die Drachin vorsichtig den Kopf und versuchte einen Blick hinter die leuchtende Lichtmauer zu erhaschen. Sie hatte oft ihren Eltern zugesehen wie sie sie, völlig furchtlos, durchquerten. Doch noch nie hatte sie gewagt auch nur eine Tatze in die Nähe des hellen Dings zu setzen. Doch heute war etwas anders. Heute schien es, als würde die Mauer sie rufen, sie zu sich ziehen. Zunächst zögerlich, dann mit wachsendem Selbstvertrauen machte sie sich eine Tatze nach der anderen setzend auf die Lichtquelle zu. Nun musste das Junge nur noch seine Kralle ausstrecken, dann würde es das komische Ding berühren. Dann würde es sehen ob es vielleicht doch gefährlich war. Gerade einmal vier Mauselängen war das Ziel entfernt. Vier Mauselängen... Plötzlich ertönte ein wütendes Fauchen. Erschrocken wirbelte die Drachin herum und raste ängstlich zum Ende der Höhle. Nach Luft schnappend presste sie sich an die Höhlenwand. Sie fühlte sich, unter der dünnen Schuppenschicht, eisig kalt an und der ein oder andere spitze Stein bohrte sich schmerzhaft in die Haut des Drachens. Doch die Kleine wich nicht zurück. Zitternd lauschte sie dem eben ausgebrochenem Geschrei. So etwas hatte sie noch nie vernommen, doch es lies ihr Innerstes erschaudern. Vielleicht begriff sie es nicht, doch ihr Instinkt wusste, dass draußen zwei Drachen auf einander los gingen. Hungrig nach Macht und entschlossen zu töten. Würde einer von ihnen dieses Versteck in Anspruch nehmen, wäre es aus mit der jungen, unerfahren Drachin. Doch sie schien Glück zu haben - bis jetzt, denn keiner der Kämpfenden wollte aufgeben. Vögelschwärme flogen entsetzt auf, wo die Gegner aneinander prallten und warnten mit ihren kräftigen Rufen vor der tötlichen Gefahr. Sie wussten: Mit einem wütendem Drachen war nicht zu spaßen, vor allem dann nicht, wenn er so erpicht darauf war, Blut zu sehen. Verängstigt kauerte die kleine Drachin in der Dunkelheit. Unsichtbare Schatten streichelten und liebkosten sie, versicherten ihr, dass alles in Ordnung sei. Doch selbst die unsichtbaren Schatten sorgten sich um, das was draußen, hinter der Lichtmauer geschah. Ein letzter, gurgelnder Schrei, dann verstummte die Welt. Kein Vogel wagte ein Lied anzustimmen, keine Maus traute sich aus ihrem Nest heraus, nicht einmal um ein paar leckere Körner zu holen. Alle verstummten und warteten auf die Reaktion des Anderen, hofften er würde das Schweigen brechen. Doch niemand tat es. Sie hatten Angst. Angst vor dem was die Stille ausgelöst hatte und Angst selbst zu seinem Opfer zu werden. Doch die kleine Drachin verstand ihre Besorgnis nicht. Sie wahr froh, dass der Kampf aufgehört hatte und jagte übermütig zu der Mauer hin. Nun wahr ihr großer Moment gekommen! Nun würde sie das Geheimnis endlich lüften! Freudig erregt sprang sie auf das seltsame, leuchtende Ding zu und quickte überrascht, als es nachgab und sie hinaus auf etwas braungrünes purzelte. Neugierig öffnete sie ihre großen Augen, schloss sie jedoch sofort wieder, als ihr ein scharfer, heller Blitz in die Augen fuhr. Mit beinahe gänzlich zusammengekniffenen Augen ertastete sich die Drachin ihren Weg. Es roch anders hier, ganz anders. Unzählige unbekannte Gerüche strömten ihr entgegen. Die Luft war frisch, nicht staubig und abgestandenen und eine sanfte Briese tätschelte ihre Stirn. Was gab es wohl noch hier? Übermütig rannte das Junge auf und ab. Jagte Tieren, die wie bunte Blätter aussahen, hinterher und genoss die angenehme Wärme auf ihren Schuppen. Nie wieder würde sie in die kalte Höhle zurückkehren! Hier war sie frei nicht eingesperrt in der Dunkelheit! Plötzlich hielt sie inne. Am Rande ihres Blickwinkels hatte sie eine seltsame Bewegung vernommen. Langsam, nun darauf bedacht kein Geräusch zu machen, schlich sie vorwärts. Ihre Freude war einer leichten Angst gewichen. Sie nahm ihr ihre Freiheit und der Welt ihre Farben. Das Blut rauschte in den Ohren der jungen Drachin. Etwas war merkwürdig an diesem Ort, ungewohnt und dunkel. Denn nun erkannte sie auch, auf welches Wesen sie zu lief: Ein Drache! Ausgestreckt und mit einer zähen, roten Masse bedeckt lag er auf dem harten Boden. Um ihn herum war das Gras plattgetreten. Nur der ein oder andere dünne Grashalm wagte den Versuch sich aufzurichten, der Rest war schlaff und kraftlos, zu erschöpft um ihre Spitzen der Sonne zu zuwenden. Sie hatten das Geschehen gespürt und erzählten nun stumm von dem Unheil. Auch das Junge verstand ihre Botschaft: Hier war etwas Schreckliches geschehen, etwas das kein lebendiges Wesen beschreiben wollte. Ein Schauder durchfuhr die Kleine. Noch viel langsamer als zuvor ging sie weiter und schnupperte argwöhnisch. Ein vertrauter Geruch stieg ihr plötzlich in die Schnauze. Es war der warme Duft ihres Vaters. ,,Papa?", piepsend eilte die kleine Drachin zu ihrem Familienmitglied. Ihre Beine fühlten sich weich an, angesichts der Gefahr, der sie gegenüberstand. Ihr Atem zitterte und ihr junges Herz schlug bis zum Hals. Aufgewühlt stürzte sie sich auf den Drachen. Er rührte sich nicht. Entsetzt jaulte die Drachin auf, zog an seinen Ohren, stellte sich auf seine Flanke, zwickte ihn in die empfindlichen Flügel. Doch es half nichts. Immer wieder versuchte sie verzweifelt alle möglichen Tricks, doch ihr Vater war tot. Ihr Instinkt wusste es, ihre Augen sahen es, ihre Ohren hörte es, ihre Nase roch es aber ihr Herz konnte es nicht glauben. Wollte es nicht glauben! Das konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Was sollte aus ihr und ihrer Mutter werden? Ihre Sicht verschwamm. Tränen fielen auf den toten Körper, glitzerten silbrig in der Sonne. Weined brach die kleine Drachin vor der Leiche zusammen. Die Welt schien auf sie herab zu stürzten. Es musste alles ein bößer Traum sein! Sie würde wieder neben ihrer Mutter und ihrem Vater aufwachen, würde sich liebkosen lassen und dann mit ihnen die bunte Welt erkunden. Doch sie witterte bereits den Geruch des Todes an seinen einst glänzenden Schuppen. Schreiend hob sie den Kopf. Betrachtete den Himmel in all seinen prächtigen Farben und Gestalten, die unter ihm wohnten. Oh, wie sehr wünschte sie sich jetzt einen grauen Regen, der an ihrem Körper zog und ihn nach unten drückte! Doch der ersehnte Regen kam nicht. Vielleicht weil er wusste, dass er der Kleinen nicht geholfen hätte, vielleicht aber auch, weil er zu viel Stolz besaß um sich von einem so unbedeutendem Wesen herum zu kommandieren lassen. Sollte er letzteres wirklich geglaubt haben, so kümmerte es die Drachin nicht weiter. Schluchzend vergrub sie ihre Nase in den Hals ihres Vaters. Er war härter als sonst, das spürte das Junge aber es wich nicht von seiner Seite. Zu viel Trauer hatte sich in ihr Herz gesaugt, war unter ihre Schuppen gekrochen und hatte ihre Knochen gelähmt. Konnte das wirklich passiert sein? War es wirklich möglich? War ihr starker Vater wirklich tot? Nein... so grausam durfte die Welt nicht sein! So grausam konnte sie gar nicht sein! Niemand konnte das! Niemand... Ein kalter Blitz durchfuhr sie. Unter Schmerzen keuchend suchte sie die Schatten ab, ihre Sicht noch immer trüb. Ihre Bewegungen noch immer schwach und zittrig. Ein hellblaues Augenpaar starrte sie aus der Finsterniss an, unheimlich und mysteriös wie der Tod selbst. Erneut suchte ein Schauder die kleine Drachin heim. Kein einziger Geruch verriet ihr, wer ihr Beobachter war. Vielleicht war er auch gar nicht von dieser Welt, vielleicht war er gekommen um ihren Vater zu holen und wartete nun auf seine Gelegenheit. Die Drachin wusste es nicht, ahnte aber, dass Gefahr von diesem eisigen Blick ausging. Diesem Blick, der sie tief in unbekannte Abgründe zog weit fern von ihrem Wissen. Was lag wohl dort in diesen Tiefen der Schatten verborgen? Welche Geheimnisse erzählten sie, welche Geschichten verbargen sie? Ein Rascheln hinter ihr ließ sie schließlich herumwirbeln. Eine große Gestalt stürzte sich mit gefletschten Zähnen auf ihren kleinen Körper. Ängstlich versuchte sie wegzulaufen, zu entkommen. Doch es half nichts. Ein kräftiger Kiefer fasste ihr Hinterbein und schleuderte sie hoch in die Luft. Das Junge hörte Fauchen und Brüllen, Krallen und Schuppen die aufeinander trafen. Dann kam es am Boden auf. Die Luft wurde erbarmungslos aus den kleinen Lungen gepresst. Die Welt verschwand in einer schwarzen, unaufhaltsamen Masse. Die Drachin wollte aufstehen, vor der Dunkelheit fliehen, doch ihre Beine gaben nach und lieferten sie den Schatten aus. Regungslos lag die Kleine neben den kämpfenden Drachen. Sie sah nicht wie ihre Krallen mit erschreckender Präzision zu den Kehlen ihres Gegners zielten und die kalten blauen Augen, mit Mordlust getränkt, den Angreifer in die Knie zwangen. Sie sah auch nicht, wie einer der Kämpfenden zu Boden fiel, für immer erstarrt. Nie wieder würde sich dieser Kopf der Sonne zu wenden und nie wieder würden diese Flügel den warmen Wind spüren. Die Silhouette eines kleinen Drachens zeichnete sich vor der eben erst gefallenen Leiche ab. Kalt und leer funkelten die blauen Augen und betrachteten nachdenklich das schutzlose Junge. Es hatte sich von ihren Geheimnissen zu sehr ablenken lassen, hatte nicht an die Gefahren gedacht die mit den Erinnerungen wandelten. Grob fasste der Drache die Kleine am Nacken und trug sie weg von den Leichen ihrer Eltern. Tapfer verstorben, jeder auf eine andere Weise aber beide durch das Wirken eines Dachen, der hungrig nach Blut und Macht seine Zähne in ihren Körper geschlagen hatte. In der unendlichen Finsternis hörte das Junge eine sanfte Stimme flüstern:,, Bringe die lebenspendende Erde zu mir, lass aus einer kleinen Flamme ein großes Feuer werden, dann wirst du deine Bestimmung finden! Aber bringe mir Erde, bringe mir Erde..." Die Worte setzen sich in den Kopf der Drachin und wiederholten sich dort, bis sie zu einem gewaltigen Dröhnen wurden. Bringe mir Erde, bringe mir Erde... Verwirrt versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, doch das einzige was sie fand war die Erinnerung an die Leiche ihres Vaters und die gespenstischen, blauen Augen.

Nach einer Weile löste sich der schwarze Nebel zögerlich auf. Die kleine Drachin hörte Stimmen, erst weit fern dann immer näher, bis sie laut in ihren Ohren schallten. Vielleicht würde sie hier leben können, vielleicht würde sie hier auch geliebt werden und vielleicht konnte sie sogar die eisigen, blauen Augen vergessen. Wenn das jemals möglich war.

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Vier Elemente - Flüstern der Erde | Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt