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Die Bässe hämmerten in meinen Ohren und ich bewegte meine Lippen unauffällig zum Sontext mit. Keiner beachtete mich wirklich. Die Kinder saßen ganz ruhig in ihren Kinderwägen, die Frauen mit den streng zurückgekämmten Haaren guckten mich noch nicht mal mit dem Arsch an und der Busfahrer tat seine Arbeit in strenger 50 km/h Geschwindigkeit. Aber das war nichts ungewöhnliches.

In meiner geliebten Heimatstadt kümmerte sich jeder um seinen eigenen Dreck. Die Menschen sind nicht gerade freundlich. Es ist nicht so, als wären sie unfreundlich, sie sind einfach nur nicht an ihren Mitmenschen interessiert.

Das beste Beispiel ist zweifellos meine Mutter.

Als mein Dad sie ohne einen bestimmten Vorwand verließ, betrübte es sie kein bisschen. Sie tat es einfach mit einer wegwerfenden Handgeste ab. Tja, aber das Kind deines Exmannes kannst du nicht einfach mit einer Handgeste abtun. Ich wurde in dem Glauben daran erzogen, dass Liebe überflüssig ist und einen nur kaputtmacht. Noch nie habe ich jemanden geliebt oder war besonders anhänglich. Zum Glück, denn so ist mir in den letzten 16 Jahren einiges erspart geblieben. Kein Liebeskummer, kein Zickenkrieg, keine Heulereien bei Beerdigungen von Verwandten.

Meine Mom war vielleicht vom Charakter her kalt und emotionslos, aber sie pflegte für jeden Menschen ein gewisses Maß an Respekt. Ich wusste das, weil sie meine Mutter war. Ein Fremder würde das ganz anders sehen, denn mit Mom's schwarzen Haaren, der bleichen Haut, den dunklen Augenringen und den winzigen Pupillen sah sie aus wie eine Verrückte.

"Nächster Halt - Watson Sanitarium.", hallten die Lautsprecher durch den Bus und ich drückte schnaubend auf den roten Knopf. Und mal wieder führte mich mein morgentlicher Weg auf wundersame Weise in die Klapse, die sich selbst lächerlicherweise als Sanatorium beschrieb. Als gäbe es in diesem "Sanatorium" große Pools, viel Spaß und einen Begrüßungscocktail.( Mit einer Cocktailkirsche drin, versteht sich. )

Aber so sieht kein Alltag in einer Psychiatrie aus, das kann ich garantieren.

Die Reifen quietschten und der Motor ächzte laut, als der Bus vor dem Sanatorium hielt. Obwohl es eine extra runde Einfahrt für Busse gab, öffnete der Busfahrer die Türen vor dem Tor. Wahrscheinlich hatte er Angst vor den ganzen freilaufenden Verrückten, die möglicherweise seinen schönen Bus demolieren könnten.

Also latschte ich wie jeden zweiten Samstagmorgen die Einfahrt hoch bis zum Gebäude.

Wenn man nicht genau wusste, dass das Sanatorium eine Psychatrie war, hätte man es von außen glatt für ein hochwertiges Mehrfamilienhaus gehalten. Das hab ich zumindest gedacht, als ich mit zwölf

Jahren zum ersten Mal die Einfahrt hochlief. Genau wie jetzt.

Hinter der hässlichen, im Pissgelb gestrichenen Fassade und den dicken Backsteinen versteckte sich eine Irrenanstalt. Nichts als hirntote Menschen die nicht mit dem Leben umgehen konnten. Eigentlich wurde ich langsam aber sicher zu einer von ihnen. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht redete ich deswegen so schlecht über die Leute im Sanatorium. Weil ich nicht dasselbe Leben leben will.

Ich öffnete die schwere Eingangstür und erblickte Meggie, die junge Mitarbeiterin am Empfang. Sie war ekelhaft freundlich und mit ihren rosigen Hamsterbacken, dem blonden Haar und ihrem Rockabilly-Style konnte sie jeden dazu bringen, sie zu mögen. Nur mich nicht. Ich hasste es, wenn sie mit mir redete, als wären wir Freundinnen. Wie in dem Moment.

"Hey, Amanda! Wie geht's meiner Lieblingspatientin?", trällerte Meggie und grinste mich an. Ich rauschte ohne ein Wort an ihr vorbei zu den Treppen. Die sollte sich bloß nichts einbilden! Mit schnellen Schritten erreichte ich den 2. Stock. Meine zuständige Ärztin Miss Kingsley erwartet mich schon, als ich in die Praxis eintrat.

"Na du?", begrüßte Miss Kingsley mich und lächelte. Die Alte wird jetzt nicht ernsthaft wie Meggie, oder? Macht sie ja noch menstruationsloser.

"Guten Morgen.", murmelte ich mürrisch und folgte ihr in das Behandlungszimmer. Sie deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und ich setzte mich. Meine Musik lief immer noch und ich starrte Miss Kingsley einfach an. Nach ein paar Sekunden bat sie mich, die Musik auszumachen und ich gehorchte, wenn auch etwas widerwillig.

Miss Kingsley räusperte sich lautstark.

"Also, wie geht es dir heute?", fragte sie und klapperte mit ihren falschen Fingernägeln etwas ungeduldig auf das Schreibtischholz.

Scheiße. Das war die Antwort auf ihre Frage. Aber anstatt zu sagen "Naja ich weiß nicht mehr was ich denken soll, ich habe voranschreitende Schizophrenie. Mir geht es überhaupt nicht gut!" sagte ich das Klassische.

"Gut."

"Das ist toll, Amanda!", strahlte Miss Kingsley und kritzelte etwas auf ihren Block.

"Sind in letzter Zeit neue Symptome aufgetreten? Nimmst du die Tabletten regelmäßig? Und wie geht es deiner Mutter?"

Fragen über Fragen. Aber ich beantwortete nur die, die ich für nötig hielt.

"Keine neuen Symptome und ja, aber die Tabletten gehen langsam aus.", sagte ich und schenkte ihr einen ausdruckslosen Blick. Undurchdringlich.

Miss Kingsley war zwar auch sehr schwer zu durchschauen, aber ihr Aussehen verriet viel über sie.

Sie trug ihre Bürokleidung immer eine Größe zu klein, damit es eng anlag, ihre Brüste zusammenquetschte und der Rock zu kurz war. Mit ihren Vierzig Jahren und den sexy Klamotten sah sie aus wie eine Oma, die ihre guten, alten Teenagerzeiten nicht vergessen wollte.

Die falschen Fingernägel rundeten das ganze Bild noch ab.

Miss Kingsley führte mit mir die allgemeinen Tests durch und verschrieb mir neue Tabletten. Und ich bat sie um Schlaftabletten.

"Warum denn Schlaftabletten?", fragte sie verwirrt. Ich atmete scharf aus.

"Abends kann ich nie einschlafen. Ich weiß nicht, ob ich träume oder es Halluzinationen sind, aber das, was ich sehe, macht mir Angst. Und ich will mal wieder ausschlafen."

Miss Kingsley bedachte mich mit einem mitleidigen Blick und verschrieb mir sofort starke Schlafpillen. Ich wollte echt kein Mitleid, weshalb ich auch nur aus Not darum bat.

Diese Sachen, die ich nachts sah, waren immer unterschiedlich. Aber der Gruselfaktor war immer gleich Zehn.

Mit meinen Rezepten und Testergebnissen machte ich mich auf den Weg zum Ausgang. Aber ich wollte die Testergebnisse noch schnell überfliegen, bevor ich sie in die Mülltonne steckte. Also nahm ich den Aufzug nach unten.

Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, bis sich die Aufzugstür mit einem süßen, leisen Ton öffnete. Ich erschrak ein wenig, als ich den kleinen Jungen sah, der zusammengerollt auf dem Boden saß. Ohne mir etwas anmerken zu lassen stellte ich mich in die andere Ecke des Aufzugs und versuchte, mein klopfendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Gebannt musterte ich den Jungen. Er war vielleicht zwölf Jahre alt, hatte strubbeliges dunkelblondes Haar und trug einen ergrauten Kittel.

Plötzlich starrte er mir direkt ins Gesicht. In seinen braunen Augen lag ein Hauch Verrücktheit. Und diese glitten langsam von mir ab, zur Aufzugwand neben mir. Ich folgte seinem Blick und traute meinen Augen kaum, als ich einen alten Mann in Mittelaltertracht vor mir sah. Das Blut rauschte im meinen Ohren und ich hielt den Atem an.

"Geh weg!", schrie ich in meinen Gedanken, aber ich wagte es nicht, es auszusprechen.

Und wie als hätte er meine Gedanken gelesen, löste sich der Mann in kleine Nebelschwaden auf. Verblüfft sah ich auf den Jungen herab, der sein Gesicht zwischen die Knie gedrückt hatte.

Der Aufzug hielt im Erdgeschoss und ich lief schnell raus. Eine Frau kam mir entgegen und rief: "Jace! Du darfst nicht alleine Aufzug fahren."

Ich drehte mich zurück und sah dem Jungen wieder ins Gesicht. Er lächelte und winkte nicht mir sondern einer Pflanze im Eingangsbereich zu. Ohne einen Blick zurückzuwerfen rannte ich aus dem Sanatorium.

Mind Effects - Die LügeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt