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"Schon in die Hosen gepisst?", fragte Steve spöttisch und warf einen kleinen Papierflieger auf das Buch, dass ich gerade las. Mit kühler Miene nahm ich den Papierflieger in die Hand und verarbeitete ihn eindrucksvoll zu einem Papierball, den ich kurzerhand auf den Boden fallen ließ. Und seit wann sprach er mich mit Nachnamen? Steve lachte sich einen Ast ab.
"Das deute ich als 'Nein'. Wie auch? Du bist selbst die Unheimlichkeit in Person." Ich schlug das Buch mit einem lauten Knall zusammen und legte es vor mir auf den Tisch.
Carrie war das beste Buch, dass ich in meinem ganzen Leben gelesen hatte. Und das musste was heißen, denn immerhin verschlang ich so viele Bücher in so kurzer Zeit wie kein anderer. Stephen King war ein Gott, ein Heiliger. Sein Schreibstil gefiel mir ausgesprochen gut. Nur weil das Buch andere zittern ließ wie Espenlaub und mich nicht, musste es nicht heißen, dass es bei mir keine Eindrücke hinterließ. Ich liebte die Geschichte und konnte mich meistens voll und ganz mit der Protagonistin, Carrie, identifizieren.

"Hast du ein Problem damit, welche Bücher ich lese, Steve?", fragte ich ruhig, aber dennoch genervt. Eigentlich ließ ich mich nie auf Provokationen solcher Art ein, aber ich würde mich gern auf eine Diskussion über Bücher einlassen. Was ich aber bei Steves Wissen über berühmte Bücher und Autoren stark anzweifelte. Ihn störte mein genervter Tonfall nicht, er fand es auch noch witzig.
"Nein, eigentlich nicht.", überlegte er und schlug plötzlich auf den Tisch, "Aber der Film ist tau-send-mal geiler, echt!" Die anderen Jungs um uns herum fingen leise an zu lachen und sich daran zu bespaßen, wie Steve mich verarschen wollte. Brad, der hinter Steve saß, machte ein übertriebenes Furzgeräusch und Steve suchte ironisch nach dem Übeltäter.
"Haha, Amanda, hast du gerade einen fahren lassen?", rief Steve so laut, dass alle Jungs die weiter weg als zwei Meter saßen eine angeekelte Miene aufsetzten oder sich die Nase zuhielten während sie prustend kicherten. Wirklich, mit sechzehn Jahren erleben Jungs noch einmal die Zwölfjährigen-Phase. Die Jungs hatten schonmal bessere Sprüche gebracht als diese Kindergartenkacke.
Ich lachte sarkastisch laut. "Ja, sogar zweimal, ihr Matschbirnen."
Ich schnappte mir mein Buch und setzte mich ans andere Ende des Raumes zu Caroline. Caroline war eine der wenigen Menschen (wie Peter), die mich ansatzweise mochten oder akzeptierten. Sie hatte ein Herz für jeden und hasste es, wenn die Jungs sich über wen lustig machten, besonders über jüngere Jahrgangsstufenschüler. In der Schule beteiligte sie sich am Schulsanitätsdienst und bot sich ebenfalls als Streitschlichterin in den jüngeren Jahrgängen an. Sie sah mich schon kommen und rief: "Steve, sei mal leise, deine sexuellen Neigungen interessiert hier keinen!" Die Mädchen kicherten und Steve... ach, Steve war einfach nur Steve. Er machte sich nichts draus, sondern rief: "Klappe jetzt!", und drehte sich zu den anderen Jungs. Mich kümmerte das einen Dreck, ich hatte besseres zutun, als mich über Klassenkameraden aufzuregen, an die ich mich in zwanzig Jahren eh nicht mehr erinnern könnte. Ich öffnete das Buch wieder bei Seite 103 und suchte die Zeile, bei der ich hängengeblieben war.

"Amanda, ist alles gut?", fragte Caroline und streichte mir besorgt über die Schulter. Jeder mochte Caroline weil sie so süß und selbstlos war. Und viel quasselte. Ich schüttelte sie ab und schob meine langen Haare wie eine Trennwand zwischen unsere Blickfelder. "Mir geht es blendend - apropos: Kannst du die Vorhänge zuziehen, die Sonne scheint wieder.", erstickte ich ihre Sorgen. "Es ist nicht hell, aber wenn du meinst...", behauptete Caroline, zog sie aber trotzdem zu. Also, wo war ich stehengeblieben?...
"Hast du schon das neueste mitbekommen, Amanda? Ich bin im Komitee für den diesjährigen Winterball! Ist das zu fassen? Ich hab schon so viele Ideen." Einfach reden lassen, dachte ich mir. Caroline konnte ich nicht blöd anmachen. Sie meinte es ja nur gut. Trotzdem nervte es mich. Sie redete immer so laut, dass man nicht weghören konnte und ihr zuhören musste! In dem Moment betrat Misses Sherwood den Klassensaal und stellte ihre Aktentasche auf dem Pult ab. "Dave hat sich bereiterklärt, ein riesiges Bühnenbild zu malen - und du weißt, wie perfekt er malen kann! Und es wird blaues, schneeflockenförmiges Konfetti von der Decke rieseln, wenn alle tanzen. Oh Gott, es wird so wunderbar! Die Gläser werden wir mit einem Zuckerrand verzieren, dann sieht es so aus, als wären die Ränder mit Tau überzogen. Ich weiß es wird eine riesen Arbeit, dass mit allen Gläsern zu machen aber...", plapperte Caroline weiter, bis sie von der vor Wut rot angelaufenen Misses Sherwood ermahnt wurde.
"Caroline Bower! Attention à classe!", rief sie und hob warnend einen Finger an den Mund.
"Oui, Madame, Pardon, Madame! Aber Amanda hat so viele Fragen zum bevorstehenden Winterball. Wissen sie, ich gehöre zum Komitee..." Wie bitte? Ich hatte sie nicht darum gebeten, mir alles zu erzählen. Misses Sherwood schnitt Caroline das Wort ab. "En français!"

Der Rest des Schultages verlief ohne irgendwelche besonderen Ereignisse. Alle redeten nur noch über den bevorstehenden Winterball, und es wurden lauter Vermutungen aufgestellt, wer wohl mit wem hingeht. Auch wenn ich immer sagte, dass ich solche Veranstaltungen hasste - das Mädchen in mir hoffte ganz leise darauf, von einem netten Typen gefragt zu werden. Ich wollte einfach nur dabei sein und auch mal etwas erleben, was bei normalen Menschen in den Lebenslauf dazugehörte.
Dazu gehörte auch der Wunsch auf einen Ball zu gehen.

In der Mittagspause verschwand ich mit meinen Schulsachen in die Schulbibliothek und machte es mir selbst zur Aufgabe, eine Liste von Dingen zu erstellen, die ich noch unbedingt machen wollte, bevor meine Symptome schlimmer wurden. Falls sie schlimmer wurden. Aber da waren ich und Miss Kingsley uns leider sehr sicher.
In der Schulbibliothek angekommen pirschte ich an der Bibiothekarin vorbei, die gerade kauend und mit fettigen Fingern eine E-Mail auf dem veralteten Schul-PC tippte. Sie motzte jeden gleich an, wenn sie nur einen Krümel auf dem Boden fand, aber selbst war sie nicht besser.
Ich ließ mich auf einen der alten, gepolsterten Stühle an einem Rundtisch in der Ecke fallen und zog einen Block und einen Stift aus der Tasche. Es waren ein paar andere Schüler in der Nähe, die entweder lernten oder an den Schüler-PCs saßen und mit müden Blicken Texte überflogen. Ich überlegte kurz und schrieb dann den ersten Punkt auf die Liste.

1. Auf den Winterball gehen

Ich kaute gedankenversunken am Ende des Stiftes herum während mir weitere Ideen in den Kopf schossen.

2. Dad finden

3. Herausfinden, wer der kleine Junge im Aufzug war und was ich genau gesehen habe.

Das waren zwar keine Erfahrungen, die ich sammeln könnte, aber Dinge, die ich einfach unbedingt herausfinden und wissen musste. Die Sache mit dem Jungen im Aufzug beschäftigte mich schon seit Tagen. Und die mit meinem Dad seit Jahren.

Mehr Punkte wollten mir fürs Erste auch garnicht mehr einfallen, ich würde die Liste immer weiter ergänzen müssen bis ich zufrieden war.

"Psst!", zischte es plötzlich ganz still und leise hinter den hohen und alten Bücherregalen. Ich drehte mich zum Geräusch um und erkannte eine Gestalt, die gerade hinter dem Bücherregal verschwand. Ich sah mich um und anscheinend bin ich die Einzige gewesen, die etwas davon gemerkt hatte. Denn die anderen Schüler waren immernoch beschäftigt mit Lernen oder in ihre Bücher vertieft. Ich sah wieder zum Regal und hörte ein hohes Mädchenkichern. Okay, dass müssen die anderen im Raum gehört haben. Aber keiner blickte auf. Neugierig schob ich meinen Stuhl zurück und folgte dem Kichern hinter die verstaubten, hohe Regale.

Mind Effects - Die LügeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt