Als ich um die Ecke des Regales spähte, gähnte mir ein leerer Gang entgegen. Stirnrunzelnd sah ich mich um. Wieder hörte ich ein Geräusch, es war ein schweres Ächzen. Direkt über mir.
Ich sah nach oben und erkannte ein kleines Mädchen, dass sich auf das obere Ende des hohen Regals hangelte. Erschrocken schnappte ich nach Luft. Was hatte überhaupt ein kleines Grundschulmädchen im Gebäude einer High School zu suchen?Das Mädchen würde unter Garantie vom Regal fallen!"Hey!", zischte ich zu ihr hoch. Aber das Mädchen beachtete mich nicht und kletterte immer weiter in die Höhe. "Komm runter, du wirst sonst fallen.", rief ich nun etwas lauter.
Das Mädchen schien mich gehört zu haben, denn sie drehte ihren Kopf zu mir nach unten und grinste mich kichernd an. Sie war vielleicht 12 Jahre alt. Ihre hellbraunen Korkenzieherlocken fielen ihr ins Gesicht und ich konnte ihre hellblauen Augen irre funkeln sehen.
"Fang mich doch!", schrie sie so laut, dass ich zusammenzuckte. Bestimmt würde gleich die Bibliothekarin in den Gang geschossen kommen und einen Aufstand machen, dass das Mädchen so laut war. Und auf den Regalen herumkletterte.Ich stöhnte genervt und zögerte keine Sekunde, dem Mädchen nachzuklettern und sie herunter zu holen. Es war schwerer als ich gedacht hatte. Meine Hände klammerten sich krampfhaft an die Regalbretter und ich kam mir vor wie ein schwerfälliger und schwingender Sack Mehl. Zum Glück kamen keine Menschen vorbei und erregten ungewollte Aufmerksamkeit. Ich würde das Mädchen unversehrt auf den Boden bringen ohne das es jemand je erfahren würde, ihr die Visitenkarte meiner Psychologin ans Herz legen und schnell wieder verschwinden.
Das Mädchen saß auf der Kante und baumelte mir ihren Beinen hin und her, als ich mich oben an der Regalleiter angekommen stöhnend auf das oberste schmale Regalbrett herauf hievte. Beigeistert klatschte sie in die Hände.
"Das ist ja so toll! Sonst spielt nie jemand mit mir Regalhüpfen.", sagte das Mädchen eher zu sich selbst als zu mir.
"Regalwas?", schnappte ich alamiert.
"Wir werden weder spielen, noch auf Regalen herumhopsen. Du kletterst da jetzt wieder runter.", sagte ich und zeigte auf die Leiter. Wir befanden uns in ungefähr 5 Metern Höhe, die für mich schon schwindelerregend waren.Das Mädchen legte ihren Kopf in den Nacken, stieß ein heiseres Lachen aus und sprang auf, um über das Regal zu rennen.
Mein Herz begann wie wild zu pochen. Dieses Mädchen war doch irre. Die gehörte noch mehr in eine Psychoanstalt als ich. Ich setzte mich auf und balancierte auf allen Vieren ans andere Ende des Regals.Die Bibliothek war aber auch echt vorteilhaft für solche Dummheiten geeignet. Die hohen Regale standen immer Rücken an Rücken parallel und in drei Reihen zueinander, so dass man (falls man übermütig oder lebensmüde war) von Regal zu Regal springen konnte. Was das Mädchen auch gerade tat. Sie flog schon praktisch über die Regale hinweg, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Verdammt, wo blieb nur diese Bibliothekarin?Ich senkte meinen Blick nach unten auf den sicheren, aber so weit entfernten Boden und meine Höhenangst drohte mich zu übermannen. Und das Regal sah auch nicht gerade einladend aus: Das alte Holz war ein wenig morsch und ich hatte das Gefühl, dass Regal würde sich hin und her bewegen. Sofort blickte ich wieder gerade aus und hielt das Mädchen mit meinem wütenden und panisch besorgtem Blick fest. Ich sprang auf und lief bis an das Ende vom Regal, bereit um zum Sprung anzusetzten. Wenn ich die Kleine erwischen würde, dann...
"Hey!", schrie jemand unter mir. Erschrocken suchte ich nach der Person, der die Stimme gehörte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Es war ein älterer Schüler, der mich mit entgeistertem Blick anstarrte.
"Bist du lebensmüde oder so? Was soll der Scheiß!" Andere Schüler tauchten auf und stellten sich dazu und fingen an zu murmeln oder erschrocken aufzuschnappen.Das kleine Mädchen drehte sich überrascht zum Schüler um und kam plötzlich durch die schwungvolle Undrehung ins Wanken. Sie versuchte, ihr Gewicht zu verlagern, aber es gelang ihr nicht und sie stolperte ins Leere. Das Mädchen griff schreiend um sich, während sie nach unten flog.
"Achtung!", schrie ich und setzte zum Sprung auf das andere Regal an. Und dann flog ich auf das Regalende zu. Meine Hand erreichte nicht die des Mädchens, sondern die Kante, doch meine schwitzigen Hände rutschten und ich krallte mich so hart ins Holz, dass ich Splitter unter meinen Nägeln spürte.
Als ich mit dem Rücken zum Boden durch die Luft flog, kam es mir vor, als würde ich gleich im Nichts landen und dieses Nichts würde mich ganz einfach verschlucken. Aber der Aufprall presste mir nur die komplette Luft aus der Lunge und mit dem Aufschlag meines Kopfes wurde alles um mich herum schwarz. Das Letzte was ich höre sind panische Rufe uns dass einer Hilfe ruft. Ich sah wie die Leiche des kleinen Mädchens in einem Gang lag und ihr Kopf unnatürlich zu mir verdreht war. Ihre toten Augen starrten mich an und auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Wer war dieses Mädchen? Und was passierte mit ihr? Niemand stand bei ihrem Leichnam oder kümmerte sich darum.
Jemand schüttelte mich und ich hörte jemanden meinen Namen rufen, aber dann bin ich schon weg.
DU LIEST GERADE
Mind Effects - Die Lüge
Mystery / ThrillerWas wäre, wenn eine psychische Erkrankung in Wirklichkeit keine Erkrankung, sondern eine Gabe ist?