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Ohne die Schlafpillen wären die nächsten Nächte nach meinem erschaudernden Erlebnis verloren gewesen. Ich wälzte mich lange im Bett herum, bildete mir gruselige Gestalten zwischen meinen Möbeln in der Dunkelheit ein und atmete schnell, bis mir einfiel, dass ich neue Schlaftabletten hatte. Nachdem ich eine von den riesigen Pillen runtergewürgt hatte, konnte ich ohne weiteres einschlafen, träumte womöglich von rosa Schäfchen und Regenbögen. Und die nächsten Nächte verbrachte ich ebenfalls mit traumlosen Schlaf.

Es war Montag Morgen und ich war total ausgelaugt. Die lauten Geräusche unserer Kaffeemaschine weckten mich unsanft aus dem künstlichen Schlaf. Meine Zunge fühlte sich ganz pelzig an von den vielen Schlaftabletten und die Müdigkeit war nicht weniger geworden. Leider konnte mich das nicht davon abhalten, meiner Schulanwesenheitspflicht nachzukommen. Meine Füße berührten den kratzigen Teppich auf dem Boden, als ich mich widerwillig aufsetzte und streckte. Mit meinem mürrischen Morgenmuffelblick schlurfte ich den Flur entlang und traf auf meine Mutter, die sich gerade den xten Kaffee aufbrühte. "Heutzutage sind ein dutzend Tassen Kaffee eine Art Tag.", pflegte meine koffeinsüchtige Mutter stets zu sagen. Deshalb waren die zwei Wochen in den Sommerferien, in denen wir meine Granny unten in New Jersey besuchten, ein Graus für sie. Denn meine Granny ist vielleicht der älteste und auch der strengste Straight Edger der USA. Sie trank keinen Alkohol, nahm keine Drogen und rauchte nicht, wie es die Ordnung der Straight Edger vorschrieb. Wer es etwas genauer nahm, gab auch keine Koffeine und Medikamente in seinem Körper. Der schwarze Tee, der als Kaffeeersatz dienen sollte, kam meiner Mom nach den zwei Wochen aus den Ohren raus. Aber jedes Mal, wenn sie sich bei der Heimkehr mit superstarken Espressos die volle Dröhnung gab, war sie bei bester Laune und ein wenig euphorisch.

"Morgen, Amanda.", begrüßte sie mich und nippte an ihrem ungesüßten Kaffee, "Frühstücken musst du heute leider allein." Ich lachte hässlig und strich mir die Haare hinters Ohr. "Als wäre das eine Seltenheit." Mom drehte sich auf dem Absatz ihrer schwarzen Pumps zu mir um. "Sind das die Tabletten oder einfach nur die Pubertät, die dich so motzig machen? Wenn es die Tabletten sind, solltest du sie schleunigst absetzten, dein Ton gefällt mir heute ganz und garnicht, Madame.", sagte sie und stellte eine frische Tasse in die Kaffeemaschine. "Und wenn es die Pubertät ist?", fragte ich und schlurfte zum Kühlschrank. Der Inhalt ließ mich seufzen. Eine halbe, angegammelte Avocado, ein paar Milliliter Milch und zwei Himbeerjoghurts. Ich schnappte mir einen Joghurt und machte im Vorbeigehen zum Besteck das Radio an. Es lief gerade If It Means Alot To You. Ich bereute es sofort, als meine Mom anfing ihre Hüften zu schwingen. Ich grinste mit vollem Mund und sagte: "Ohgott Mom! In deinem Alter renkst du dir bei sowas dein Becken aus." Aber sie ließ sich nicht beirren, takelte auf ihren Pumps zum Kleiderhaken und zog sich einen eleganten grauen Mantel über. "Ich muss jetzt losfahren, wenn ich es noch zum Meeting schaffen will.", erklärte sie und schnappte sich ihre Aktentasche von der Kommode, "Hab einen schönen Tag!" Ich hörte noch, wie sie mit ihren Schuhen zur Tür klackerte und diese mit einem lauten Knall zufallen ließ. 

Der Joghurt stellte meinen Magen fürs Erste zufrieden. Nachdem ich meine Zähne geputzt und mich frischgemacht hatte, drehte ich meine langen schwarzen Haare zu einem Dutt. Ich beobachtete mich im Spiegel. "Nein, das sieht doch voll scheiße aus.", murmelte ich und löste den Dutt wieder. Wenn meine Haare die Wangen leicht verdeckten, fühlte ich mich besser und sicher vor der Welt. Manche Mädchen aus meiner Klasse machten ab und zu Witze darüber, dass ich einen Vorhang vor dem Gesicht hatte, aber sie würden es nie verstehen. Mit ein paar Handgriffen war mein dezentes Makeup fertig und ich schmiss mich in mein Lieblingsoutfit - enge ripped Jeans mit einem weiten grauen T-Shirt und ein paar silbernen Armkettchen. Für einen Schultag war es okay, aber fürs Rumgammeln perfekt. Miss Sherwood, meine ach so tolle Klassenlehrerin, beanstandete oft meinen Klamottenstil. Er war ihr zu "légere". 

Als ich die schwere Haustür öffnete, schlug mir ein eiskalter Wind ins Gesicht und ich war einmal mehr dankbar, dass ich einen Schal anhatte. Ich zog ihn mir bis über die Nase und schulterte meine Schultasche erneut, bevor ich auf die mit Eis und Streusalz bedeckte Straße trat. Der Schnee knirschte unter den Sohlen meiner Schuhe so laut, dass es mich fast schon störte. "Hey!", rief jemand hinter mir. Einfach weiterlaufen., dachte ich mir und stapfte über den Bürgersteig. "Hey, Amanda, warte!", rief dieser Jemand, der ganz sicher niemand anderes war als Peter. Peter war so ziemlich der Einzigste der ganzen Schule, der mich beachtete. Und mit beachten meine ich nerven. Jeden Morgen lief er zur gleichen Bushaltestelle wie ich und machte es sich zur Aufgabe, mein ganz persönlicher Entertainer zu sein. Zum Beispiel kletterte er auf die Dächer der Haltestellen, pinkelte gegen parkende Autos oder begrüßte irgendwelche Passanten. Diese ignorierten den kleinen Jungen stetig, sahen ihn noch nicht mal an. Aber es machte ihm nichts aus. 

"Hallo, Wie war dein Wochenende?", fragte Peter und zog seine orange geringelte Bommelmütze über die kleinen Ohren. Eigentlich war alles an ihm klein (jetzt bloß nicht zweideutig denken): Die Ohren, die Nase, der Mund, die Hände, die Füße. Dafür waren seine braunen Augen unglaublich groß. Die große Harry-Potter-Brille auf seiner Nase setzte den perfekten Akzent. Er sah wirklich aus wie ein kleiner Streber, aber Selbstbewusstsein hatte er massig. 
"Es ist Montag, Montag ist scheiße, rede nicht mit mir.", sagte ich und setzte mich auf die Bank. Peter blieb vor mir stehen.
"Also mein Wochenende war langweilig. Ich bin wieder die ganze Zeit auf dem Dachboden gewesen und habe alte Fußballsammelkarten sortiert. Dabei mag ich noch nicht mal Fußball!", erzählte mir Peter, und er redete so schnell, dass ich fast den Faden verlor. "Ich habe auch wieder Maddy getroffen. Du musst sie mal kennenlernen.", schwärmte Peter, "Sie hat blonde Locken und einen britischen Akzent." Seit Wochen redete er nurnoch von Maddy, einem Mädchen in das er unglaublich verliebt war. Mir machte das nichts aus, solange er keine Fragen über mich stellte. 
"Du bist echt müde heute.", stellte er fest. "That´s the point, Sherlock!", rief ich und raufte mir die Haare. Ich zerrte den iPod aus meiner Tasche und steckte die Hörer in meine Ohren. Ich breche aus aus diesem elenden Leben, wenn ich Musik höre. Das Leben hat doch keinen Sinn, außer du hörst Musik. Der Herzschlag passt sich dem Takt an und alles ist wieder im Lot.

So läuft das aber nicht in der Schule. Dort sind elektronische Geräte verboten, genau wie Kaugummikauen und durch die Gänge rennen. Peter machte sich nichts daraus und verstieß gleich gegen zwei Regeln: Kaugummikauen und elektronische Geräte. Während wir duch die Gänge liefen, kaute er sein Melonenkaugummi und tippte eine Nachricht auf seinem altmodischen Tastenhandy. 
"Wieviel Uhr ist es?"; fragte ich ihn und packte den iPod wieder in die Taschen. "Mist!", rief er, "Es ist drei Minunten vor Unterrichtsbeginn. Tschüss!" Und so verstieß er gegen drei Regeln gleichzeitig als er kaugummikauend und mit Handy in der Hand durch die Schule brauste. "Ciao, Peter!", rief ich ihm hinterher. Ein paar Schüler drehten sich zu mir um, und dann in die Richtung, in die Peter hin verschwunden ist. Die schicken Tussen sahen mich mit herablassendem  Blick an und sogar die Jungs flüsterten sich etwas zu. "Irre." und "Krank." waren nur zwei von Hunderten Wortfetzen, die ich erhaschen konnte. War es wirklich so schlimm, einem kleinen Streber ein "Tschüss!", hinterher zu rufen? Die Schulklingel läutete und ich verschwand mit der Menge in den Klassenzimmern.

Mind Effects - Die LügeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt