Alkohol.

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Wir beginnen immer mit den leichten Sachen. Mit den einfachen Sachen.

Lee nicht.

Lee kippt drei Shots hinunter, ohne dazwischen auch nur nach Luft zu schnappen, dann knallt sie die Gläser hin und bestellt sich mit ruhiger Stimme ein Bier.
"Macht man das nicht eigentlich umgekehrt?", frage ich. "Zuerst das Bier, dann die harten Sachen?"
Sie sieht mich an. Mit diesem Blick, so vollkommen emotionslos und kühl.
"Nur die Harten kommen in den Garten.", sagt sie.
"Ja.", erwidere ich, "Aber Bier auf Wein, das lasse sein. Wein auf Bier, das merke dir."
"Kein Bier vor vier.", meint sie, "Soweit ich weiß, gibt es aber keine solchen Sprüche für Vodka."
"Vodka vor Bier, das verbiet ich dir.", sage ich.
Sie hebt die Augenbrauen. "Das hast du dir ausgedacht.", sagt sie.
"Alle Sprüche hat sich mal jemand ausgedacht.", sage ich nur.
Was mache ich hier? Ich mache sowas eigentlich nicht. Ich bin Bier mit Freunden gewohnt, geselliges Zusammensein in jemandes Wohnung. Mit guter Musik und guten Gesprächen. Aber Lee nicht.
Lee steht einfach so vor meiner Tür, (weiß der Geier wie sie herausgefunden hat, wo ich wohne, ich habe es ihr nie gesagt) und sagte, ich solle mich in Schale werfen. Heute bringe ich dir bei, wie man Spaß hat.

Was wenn ich keinen Spaß haben will?

Lee ist es gewohnt, die ganze Nacht durch die Clubs und Lokale der Stadt zu ziehen, mit hartem Alkohol und Musik, die so laut ist das mein Herz im Takt der Bässe schlägt. Ich mag das nicht. Habe ich mal, ein bisschen, als ich jünger war. Bei solchen Feiern werden Menschen zu hemmungslos für mich. So schamlos. Ich mag das nicht.
Ich bin kein Mauerblümchen. Ich bin nur die Sorte Mensch, die sich zu viele Gedanken um den eigenen Ruf macht, die nicht aus sich herausgehen kann. Das einzige, was nach Vodka und Rum aus mir herauskommt, ist mein Abendessen.
"Willst du tanzen?", fragt sie. Nein, will ich nicht.
"Ich kann nicht tanzen.", erwidere ich. Sie verdreht die Augen.
"Mensch, du musst ja auch keinen Walzer tanzen. Du hüpfst einfach herum." An der Stelle muss ich erwähnen, dass ich durchaus Walzer tanzen kann, aber nicht herumhüpfen.
"Ich will wirklich nicht.", sage ich, aber sie nimmt meine Hand und zieht mich in die Massen.

Mir schlägt Hitze entgegen, Hitze von Menschen die ständig in Bewegung sind und viel zu nah beieinander. Ich streife einen Arm hier, einen Rücken da; es bereitet mir ein klein wenig Unbehagen, wenn ich ehrlich bin. Sie bewegt sich mit der Musik, abgehackt, die Hände nach oben, das Haar wirbelt um ihren Kopf umher. Ich hüpfe ein wenig auf und ab, aber ich kann es nicht. Ich müsste wie sie sein, müsste die Musik in mich hineinlassen und sie mich bewegen lassen. So funktioniert tanzen. Du darfst nicht denken, du musst dich der Melodie und dem Rhythmus ausliefern.

Es ist einfacher mit ein wenig Alkohol im Blut.

Ich will hier wieder raus. Drehe mich um und gehe, als sie meinen Arm wieder festhält und durch die grauenhaft laute Musik meinen Namen schreit.
"Du bist verklemmt", brüllt sie. Ich schüttle den Kopf.
"Ich mag das nicht.", schreie ich zurück, und ich schreie viel lauter als sie.
"Du brauchst mehr Alkohol.", schreit sie, dann zerrt sie mich wieder aus der Menge heraus, tänzelt zur Bar, hüpft auf den Tresen und hält drei Finger hoch. Der Barkeeper nickt. Er ist ein echter Profi, er schmeißt die Flaschen regelrecht hoch, fängt sie auf und kippt alles zusammen. Natürlich noch Eis, schüttelt das ganze und wirft seinen Mischbehälter herum. Dann kippt er alles in kleine Gläser und stellt sie ihr hin. Lee zückt ihre Brieftasche, aber er winkt ab und zwinkert.
Sie kehrt zu mir zurück. "Trink.", befiehlt sie, "Trink alles."
Das ist keine gute Idee. Oh nein. Aber ich will nicht unhöflich sein, und trinke das erste Glas aus. Es brennt meinen Hals hinab, die Speiseröhre und wärmt meinen Magen. Ich verziehe das Gesicht.
"Danke, das reicht.", sage ich.
"Trink, du Lusche! Oder ich trink's.", sagt sie. Ich sehe sie an. Wenn sie noch mehr trinkt, dann vergiftet sie sich selbst. Sie wiegt weniger als eine Fliege. Das kann ich nicht verantworten. Auch wenn ich mich ekle.
Als die Gläser leer sind, nickt Lee wohlwollend. "Besser?", fragt sie, obwohl es eigentlich eher eine Feststellung zu sein scheint. Ich unterdrücke ein Rülpsen.

Es bleibt nicht bei drei. Es werden sieben, sieben Gläser feinster starker Alkohol, und zwei Flaschen Bier, dann torkle ich irgendwann aus dem Lokal hinaus. Ich kann nicht sagen, wie betrunken sie ist. Sie muss es sein. Aber im Gegensatz zu mir schafft sie es zu gehen, ohne sich festhalten zu müssen.
Ich beginne zu lachen. Das hier ist absurd. Ich sollte nicht so betrunken sein, nicht mit ihr. Es fühlt sich falsch an, und ich kann nicht erklären wieso.

"Lee.", sage ich, wegen meiner alkoholschweren Zunge klingt es nach LeeEE. Ich lasse mich an der Mauer zu Boden rutschen, in den Dreck, es ist mir egal.
"Was denn?", fragt sie, setzt sich neben mich.
"Das hier ist das aufregendste, was ich in den letzten drei Jahren gemacht habe.", stammle ich. Sie lacht.
"Kein Problem.", sagt sie. "Ich nehme dich gerne nochmal mit. Du bist lustig, wenn du betrunken bist."

Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt, das folgende zu tun. Sie wird es mir nie sagen, wir werden nie wieder darüber reden. Aber in diesem kalten, roten Licht der Neonröhre über uns packt sie mein Gesicht und küsst mich. Einfach so. Im ersten Moment bin ich zu überrascht, um zu reagieren, sie drückt ihre Lippen auf meine als wäre ich eine Statue.
Ihre Lippen sind weich, etwas klebrig. Sie riecht nach Alkohol und den billigen Zigaretten, die sie raucht.

Dann bewegen sich ihre Lippen. Öffnen sich. Ich spüre ihre Zunge auf meinen Lippen, das reißt mich aus meiner Schockstarre. An ihren Schultern schiebe ich sie von mir.
"Nein, halt, stopp.", rufe ich. Sie fasst sich an den Mund.
"Es... Es tut mir leid.", bringt sie mühsam hervor. "Ich dachte irgendwie, du bist wie ich und magst... beides... Oh Gott, es tut mir so leid."
Ich sitze nur da.
"Hast du denn schon jemanden?", fragt sie, ihre Stimme klingt erstickt. Ich denke an jemanden. Ja, ein wenig. Auch wenn es noch keine richtige Beziehung ist. Aber ich weiß, dass er mich mag.
"Ja.", sage ich.
Jetzt rinnen ihr Tränen über die Wangen. Im Licht glitzern sie wie Rubine.  Aber sie lacht.
"Und liebst du... ihn?", fragt sie.
"Ja.", wiederhole ich.
"Dann sag ihm das nicht.", stottert sie, ringt zwischen den Worten nach Luft.

Da sitzen wir. Im Dreck. Mädchen wie sie weinen nicht. Lee tut es trotzdem.

Das ist der erste Hauch von Emotion, den ich bei ihr erleben. Und ich begreife.

Regen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt