Kokain.

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Der Junge, den ich erwähnt habe, er heißt Curtis, aber alle nennen ihn Curtis Cobain, weil er Nirvana vergöttert. Er mag Kunst und Musik, auch wenn er nicht so aussieht.

Curtis ist zur Hälfte Norweger. Curtis trinkt fast nie, aber wenn, dann so Zeug wie Whiskey. Curtis trägt mit Vorliebe Lederjacken. Curtis ist das Geschlecht eines Menschen egal, aber er mag das Wort pansexuell nicht und bezeichnet sich selbst nur als queer.

Und Curtis Kurt Cobain merkt noch vor mir, dass ich neben der Spur bin.

"Ist es wegen mir?", fragt er.
"Nein.", sage ich. "Wirklich nicht."
"Deine Eltern?", fragt er.
"Nein.", sage ich. Er nimmt meine Hand.
"Du kannst mir alles erzählen.", sagt er. Ich nicke nur. Ich weiß.
"Aber dir liegt etwas auf dem Herzen.", fügt er nach einer Weile hinzu.
"Es ist nichts, dass du änder könntest.", sage ich müde. "Ich bin nur müde und mache mir sinnlose Sorgen."
"Das tust du immer.", sagt er. Legt den Arm um mich. "Immer. Babygulrot."
Ich lächle. Curtis nennt mich Babygulrot, Babykarotte, weil er fast nie norwegisch redet, und wenn, nur für mich. Mit Vorliebe sagt er mir dann ein Gedicht über Babykarotten auf.
Ich kann nicht sagen, dass ich ihn nicht liebe. Wesentlich mehr als Lee. Aber sie geht mir nicht aus dem Kopf. Ich mache mir Sorgen, ja, und zwar um sie.

Curtis bringt mich nach Hause. Er hat ein Auto, um das er sich kümmert wie um ein Kind. Ich nicht. Zum Abschied küsst er mich, nicht lange, und er wirkt etwas schüchtern dabei. Unser erster Kuss. Und ich bekomme ihn kaum mit.
"Schlaf dich aus.", sagt er. Wir wissen beide, dass ich gelogen habe.

Also melde diesmal ich mich bei Lee. Sage ihr, dass ich ihr nicht verzeihe, weil es nichts zu verzeihen gibt. Ich lade sie ein, diesmal in ruhigerer Umgebung etwas zu trinken. Es dauert zwei Stunden, bis sie zurückschreibt. Es tut ihr trotzdem leid, schreibt sie. Sie würde gerne, aber sie mag nicht was ich ihr vorgeschlagen habe. Dann lädt sie mich zu ihr ein, und ich fahre zuerst mit der Straßenbahn und dann dem Bus. Lee wohnt in einer guten Gegend. Einer ausgezeichneten Gegend. Die Häuse haben gewaltige Gärten mit großen Zäunen und dichten Hecken drum herum. Die Tore darin alle schneeweiß lackiert. Ein Frau mit einem Pudel kommt mir entgegen, und sie würdigt mir keinen Blick. Alles hier ist klischeehaft, so wie man sich den Ort vorstellt, an dem die Reichen und Schönen wohnen.
Und hier wohnt Lee.

Das Tor steht offen, ich gehe den Weg entlang bis zu dem Haus. Der Kies knirscht bei jedem Schritt unter meinen Füßen. Da reißt jemand die Haustür auf und Lee rennt hinaus, hinter ihr ein Mann. Ihr Vater vielleicht. Über ihren Rücken hinweg schreit sie ihm zu: "Dann geh ich eben!"
Als sie mich bemerkt grüßt sie halbherzig, nimmt mich bei der Hand und zerrt mich weg. Fort von dem Haus. Im Türrahmen steht noch immer dieser Mann, er ruft ihr schreckliche Dinge hinterher, nennt sie eine verwöhnte Hure, und ich denke, das kann nicht ihr Vater sein. Als er sich jedoch die Haare rauft, das letzte was ich von ihm sehe, denke ich, so verletzt kann nur ein Vater sein. Oder eine Mutter. Oder ein was auch immer.

Ich bringe sie zu mir nach Hause. Im Bus beginnt sie zu weinen. Als sie aufhört, erzählt sie mir die Geschichte.

Der Mann in der Tür war ihr Vater. Er ist Notar. Er ist ein Christ. Er mag keine Mädchen, die Mädchen mögen und keine Jungen, die Jungen mögen. Er sagt, das sei Gottes Wort. Er sagt, Lee würde in die Hölle kommen, weil sie ihre Nachbarin im Pool gefingert hat. Lee erzählt mir im Detail, was noch alles, und an der Stelle steige ich aus, weil ich das nicht mag. Ich habe keinen besseren Grund.

Ich steige wieder ein, als ihre Haushälterin die Nachbarin verscheucht und ihren Vater informiert.

Er sagt auch, sie kleide sich und trinke wie eine Hure, sie sei eine missratene, dumme Hure und er bereut es ihre Mutter geschwängert zu haben. Mir wird übel als sie davon erzählt. Mein Vater hat mich noch nie beschimpft. Genauer gesagt hat er schon seit drei Jahren kein Wort mehr mit mir gesprochen, aber nicht aus Hass, sondern aus, "Ich und deine Mutter, das geht gerade nicht."

Lee sagt nur, "Ich bereue auch, mich nicht in der Gebärmutter mit der Nabelschnur erhängt zu haben.", und ich denke, das ist ein sehr interessanter Weg, Selbstmord zu begehen. Sie fragt mich, ob bei mir zuhause jemand ist. Ich sage nein, meine Mutter arbeitet. Sie fragt, "Können wir zu dir?", und dumm wie ich bin sage ich, "Wenn du nicht versuchst, mich in der Dusche zu fingern."
Ich glaube, in diesem Moment hasst sie mich mehr als ihren Vater.

Trotzdem setze ich sie bei mir zuhause auf das Sofa. Ich weiß nicht, was wir tun sollen, also schalte ich den Fernseher ein und wir schauen eine dumme Kochshow. Gordon Ramsay würde seinen eigenen Kopf in den Backofen stecken, wenn er dort auch nur fünf Minuten verbringen müsste. Aber mich heitert es auf.

Lee nicht.

Lee wird unruhig. Sie starrt mich an, wenn ich wegsehe, dann starrt sie auf den Fernseher, dann wieder zu mir. Schließlich entschuldigt sie sich für das Folgende.

Ich hätte etwas tun können. Den Tisch umstoßen. Aber sie hätte ihr Kokain vom Boden aufgeschnupft.

Denn Scheiße, genau das macht sie. Ich verfalle wieder dieser Lähmung, die selbe die mich überfallen hatte als sie mich betrunken geküsst hat. Aber diesmal sehe ich nur zu, in Zeitlupe und doch beschleunigt, wie sie den Couchtisch freiräumt und dieses  weiße Pulver verstreut, klischeehaft mit der Kreditkarte oder sonst was zusammenschabt, zu diesen drei süßen, weißen Linien. Vielleicht war es auch nur ihr Büchereiausweis. Wie sie den Schein zusammenrollt, ansetzt, zieht, eine Reihe nach der anderen. Als sie fertig ist, hebt sie den Kopf, lacht glockenhell. Hält die Hand unter die Nase. Mein Herz schlägt zu schnell, zu unregelmäßig. Ich kann noch immer keinen Muskel bewegen, dann beginne auch ich zu lachen. Hysterisch. Was zur Hölle?

Jetzt steht sie auf. Ich höre zu lachen auf. Wischt den Rest weg, damit meine Mama wenn sie heimkommt ihre Nudeln nicht in verdammtes Kokain stellt. Sie sagt, "Ah, das habe ich gebraucht."

Ich sage nichts.

"Oder wolltest du auch?", fragt sie. Ich schüttle den Kopf. Sie fügt hinzu, "Schau mich nicht so erschrocken an. Ich bin eine verwöhnte Schlampe. Wir sind so."
Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange. Wischt sich nocheinmal die Nase ab. Sie muss jetzt gehen, sagt sie. Aber ich bin am Wochenende herzlich eingeladen, mit ihr und ein paar Freunden kräftig auf den Putz zu hauen. Sie würde keine Absage dulden.

Ich habe bis heute eine Frage, Lee. Tust du all das wegen deinem Vater? Oder sind deine Gründe ganz anders, viel schlimmer, viel trivialer?

Du hast es mir nie gesagt.

(a/n der Titel erinnert mich selbst an mein erstes Konzert von Trailerpark vor ein paar Wochen. Alligatoah: Kokain! Die Menge: Kokain!)

Regen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt