Cannabis.

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Irgendwann einmal wird Lee mir sagen, dass ich an dem Abend Speed gezogen habe. Irgendwann. Eine Woche später.

Bei uns nennt man das Objekt zwischen meinen Fingern einen Ofen.  Ich finde das so witzig, dass ich mir kein anderes Wort überlegen will.

"Woher kannst du das so gut?", fragt Lee, als ich ihr den Ofen, hihi, gebe.

"Du fragst mich Sachen.", sage ich. "Einfach oft gemacht, schätze ich." Ich weiß nicht, was sie erwartet. Eine traurige Geschichte?

"Ja, aber wieso? Gibt's da irgendeine traurige Geschichte?", bohrt sie weiter. Ah ja.
Wir sitzen am Ufer eines grauen, schlammigen Flusses, der breit wie ein See ist und auf dem Dampfschiffe Flusskreuzfahrten bestreiten. Sie sitzt auf meiner Jeansjacke und fummelt an ihrer Netzstrumpfhose herum, während ich mit Tabak und Gras hantiere. Beste Qualität. Ich kenne jemanden, der das Zeug über einer Polizeistation anbaut und sich damit bei den Bullen freikauft, der Scherzkeks.

"Gibt keine traurige Geschichte.", sage ich. "Ich tu's gerne, das ist alles." Das erste Mal hab ich Gras mit 16 geraucht, auf der Geburtstagsparty von Curtis. Wenn ich so drüber nachdenke kenne ich ihn schon echt lange.
"Drogen nimmt man doch nicht einfach so.", sagt sie.
"Ach? Was ist denn deine traurige Geschichte?", rutscht es mir hinaus. Dumme Frage. Ganz, ganz dumme Frage. Als wäre ich die letzten Wochen blind und taub gewesen.
Sie starrt mich giftig von der Seite an und schweigt. Ich gebe ihr mein Feuerzeug und wir rauchen gemeinsam.

Es ist eine Friedenspfeife. Nach der Party das letzte Mal habe ich ihr Badezimmer vollgekotzt und ihr Vorwürfe gemacht, mir Drogen zu geben. Ich bin ein Heuchler. Gras und Alkohol sind auch Drogen, und ich tue so, als wäre das bisschen Speed Heroin gewesen. Verflucht nochmal, Zigaretten sind eigentlich Drogen!

Und so rauchen wir. Nach der Hälfte steigt ein Gefühl von meinem Magen aus in meinem Körper auf. Es fühlt sich wie ein Leuchten an, warm und kribbelig. Mein Kopf wird ganz leicht, meine Augen schwer. Ah, jetzt wirkt es.
Ein Blick in ihr Gesicht und ich weiß, dass sie es auch spürt. Wir sind ganz leicht. Ganz weich. Ganz high.

"Ich habe eine Angststörung.", sage ich. "Das ist das traurigste an meinem Leben."
Lee sagt lange nichts, dann, "Und wie ist das so?"
"Du hast einfach Angst. Vor nichts speziellem. Nur Angst, immer. Du  wachst auf und - Angst. Oh scheiße, heute sterbe ich. Ohen Grund. Kannst nicht mehr essen. Willst gar nicht mehr aufstehen weil eh alles schrecklich ist und außerdem hast du Angst." Ich fühle mein Herz klopfen, lege die Hand darauf. Ja, so ist das. Mein Herz klopft zu schnell wenn ich Angst habe.
Klopf Klopf.
Wer da?
Der Tod!

"Und jetzt?", fragt sie weiter.
"Geht es wieder.", sage ich. "Früher war es schlimmer."
"Nein.", sagt Lee. "Früher war es besser. Da haben meine Eltern mich noch gern gehabt."
"Das tun sie heute auch noch.", erwidere und sie lacht spöttisch.
"Lügenkresse.", sagt sie leise.
"Was?", frage ich.
"Lügenkresse. Statt Lügenpresse.", erklärt sie mir und wirft den Ofen-hihi-Stummel ins Wasser.
"Keiner liebt mich mehr.", fährt sie fort. Steckt die Hände in die Jackentasche und starrt auf das Wasser. "Keiner.", wiederholt sie, und dreht sich wieder zu mir um. "Weißt du noch, als wir uns kennengelernt haben?"
"Ja.", sage ich. "An dem Tag ab ich meine Aufnahmeprüfung an der Uni gehabt."
"Und ich eine Abtreibung.", entgegnet sie. "Weil der Vater ein 40-jähriger Kerl mit Frau und Kind gewesen ist. Er hat mir Koks abgekauft und mich geschwängert. Er hat gesagt, wenn ich es nicht töte bringt er mich um. Aber mein Vater hätte das sowieso für ihn gemacht."
Wieder Schweigen. Ich finde keine Worte. Keine Art, ihr mein Mitgefühl zu zeigen. Tut mir leid, das ist zu wenig. Viel zu wenig.

"Das tut mir leid.", bringe ich hervor.
"Ich will dein Mitleid nicht.", spottet sie. "Ich will gar nichts mehr."

Sie stolpert den Abhang hinauf. Ich ihr hinterher.
"Warte.", rufe ich, "Was meinst du damit?" Ich habe so eine Ahnung. So eine schreckliche, kalte Ahnung.
"Nichts.", sagt Lee. "Gar nichts." Sie bleibt stehen, sieht mir ins Gesicht. "Entschuldige mich.", sagt sie. "Aber ich muss los. Ash hat was Neues, meint sie."
"Was genau?", frage ich ängstlich. Ach, die Angst. Heute nicht um mein eigenes Leben. Ausnahmsweise.
"Keine Ahnung.", sagt sie. "Es gibt viele Drogen."

Da geht sie dahin. Fort von ihrem Vater, von dem Mann, von allen Männern auf der Welt. Hässliche Männer. Schöne Männer. Fort von ihnen, damit keiner ihr mehr wehtun kann. Das haben sie schon. Mehr als genug.

Ach, mein Gott, was war ich nur für ein eingerauchter Idiot an dem Tag. Wäre ich ihr doch nachgelaufen. Hätte sie nicht dahin fahren lassen.

Hätte hätte Fahrradkette, Perlenkette, Sklavenkette.
Ich bin doch auch nur ein Mann.

Regen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt