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Sommer 2012

„Bruno, bitte fahr langsamer!", bat ich meinen besten Freund inständig, während dieser mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit über eine vielbefahrene Landstraße raste. Wir waren viel zu spät dran. „Bruno, bitte fahr langsamer!", wiederholte er meine Worte mit einem spöttischen Lachen und fuhr sich auf meinen skeptischen Blick hin beschämt durch das dunkle Haar. Ich merkte aber direkt, wie er seine Geschwindigkeit reduzierte.

Unser Schulweg, auf dem er mich immer mit dem Auto mitnahm, das er zu seinem 18. Geburtstag bekommen hatte, war ziemlich mühsam, da wir in der Innenstadt fast jedes Mal in einen Stau gerieten und zu spät kamen. Das glaubten uns die Lehrer schon lange nicht mehr.

Es war der erste Schultag nach den Sommerferien und es war immer noch so unerträglich heiß draußen, dass ich selbst nur mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt bekleidet schnell zu schwitzen begann. Trotzdem liebte ich den Sommer. Ich liebte die Sonne, die Grillabende mit Freunden, die nächtlichen Spaziergänge. Im Sommer war die Welt so unbeschwerlich.

Als ich aussteigen wollte, klebte ich mit dein Beinen am Ledersitz fest, woraufhin ich einen anzüglichen Blick meines besten Freundes erntete. Ich hasste die Bemerkungen seinerseits, die immer auf das Selbe abzielten. Ihm das zu sagen, hatte ich mich allerdings noch nicht getraut.

Bruno' Eltern waren unheimlich katholisch und waren genau deshalb sehr gut auf meine Familie zu sprechen. Trotzdem kannte ich niemanden, der so oft das Gesetz brach wie Bruno. Selbstverständlich wusste seine Eltern nichts davon. Er ging schließlich jeden Sonntag mit ihnen zum Gottesdienst und erzählte am Esstisch von seinen guten Noten, die zwar nicht gelogen waren, aber auch auf die Nachhilfe, die ich ihm heimlich nach der Schule gab, zurückzuführen waren. Bruno war lange nicht der Sohn, für den seine Eltern ihn hielten und genau das war es, was ich an ihm schon immer bewunderte. Denn ich war ganz genau die Tochter, für die meine Eltern mich hielten: Die verantwortungsbewusste, manierliche Finja, die keiner Fliege etwas zu leide tun könnte. Ich glaube, das nervte meinen besten Freund ziemlich, da er mich ständig auf irgendwelche Partys schleppen wollte, die meine Eltern mir sowieso nie erlauben würden, und mir ständig etwas von seinem blöden Gras anbot. Ich hasste es, dass er dieses Zeug so oft mit Luisa nach der Schule rauchte. Luisa, Bruno und ich hingen nur zu dritt herum, hatten nur uns, und weil die beiden diese Drogenerfahrungen teilten, fühlte ich mich oft ausgeschlossen. Trotzdem blieb ich meiner Sturheit treu und gab nicht nach, wenn sie mich wieder einmal einluden, nach dem Englischunterricht mit zu Luisas Großmutter zu kommen. Sie roch das Zeug sowieso nicht mehr, versicherten Luisa und Bruno mir dann immer wieder. Herr Bauer, unser Englischlehrer, musterte uns abwertend, als wir den Klassenraum betraten, aber ließ unsere wiederholte Verspätung unkommentiert. Ich lief vor Scham rot an, während Bruno sich nicht um die Reaktion des Lehrers scherte.

Luisa grinste mir mit ihrem breitesten Lächeln entgegen und ich las von ihren Lippen ab, dass sie mir etwas Dringendes zu erzählen hatte. Dringend bedeutet in dem Fall wahrscheinlich die Information über einen ihrer mittlerweile unzähligen One-Night-Stands, die sie in den Ferien gehabt hatte.

Bruno ärgerte sich in ihrer Abwesenheit immer sehr darüber (wahrscheinlich, weil er sehr in sie verliebt war), aber mir war das egal. Es waren schließlich nicht meine Probleme und nicht meine Geschlechtskrankheiten. Ihr pechschwarzes, langes Haar trug sie zu einem hohen Zopf, der den Blick noch mehr auf ihren riesigen Ausschnitt lenkte. Aber auch das war man von ihr gewohnt.

„Was gibt's?", fragte ich sie, während ich meine Tasche abstellte und neben ihr auf dem Stuhl Platz nahm. Wieder grinste sie vielsagend. „Was gibt's?", wiederholte sie lachend und innerlich ärgerte ich mich, dass Bruno und sie ständig meine Worte wiederholten und sich über mich lustig machten. Luisa spielte an ihrem Pferdeschwanz herum und drehte eine Haarsträhne um ihren langen, schlanken Zeigefinger, um mich auf ihre Geschichte neugierig zu machen.

Sie machte aus allem immer eine riesige Show. Ich warf ihr einen genervten Blick zu.

„Ich weiß, ich weiß. Ich komm nie zum Punkt.", lachte sie und blickte mich tröstend an. „Aber dafür zum Höhepunkt. Was mich zu meiner Geschichte bringt." Natürlich ging es um einen ihrer One-Night-Stands in den Ferien und natürlich breitete sie die Geschichte so laut und ausführlich aus, dass selbst Herr Bauer im Laufe der Stunde Wind davon bekam.

Luisa war Schauspielerin (oder hielt sich in der Theater-AG zumindest für eine) und schaffte es alles so theatralisch rüberzubringen, dass sie einem von der Wetterlage in Südkorea erzählen konnte, und man wartete noch auf den interessanten Wendepunkt der Geschichte.

Sie war eine genauso gute Geschichtenerzählerin wie Lügnerin. Trotzdem war sie meine beste Freundin, schon seitdem ich Wien verlassen hatte und in die kleine Stadt am Rande Nordrhein-Westfalens gezogen war.

Nach dem Unterricht musterte sie mich grinsend und fragte dann, ob ich heute Abend mit zu Johann von Winterbergs Party kommen wolle. Ich lachte verächtlich auf.

„Es ist Montag, Luisa. Und außerdem kann ich ihn nicht leiden, schon vergessen?"

Johann von Winterberg war so ziemlich der dämlichste Idiot mit dem dämlichsten Namen der Schule und ich war mir sicher, dass die anderen ihn nur mochten, weil seine Eltern ständig Geschäftsreisen unternahmen und er so selbst unter der Woche Partys in seiner riesigen Villa am Rande unserer Kleinstadt schmeißen konnte. In meinen Augen war er ein oberflächliches Arschloch. In der 7. Klasse hatte er mich mit den anderen Jungs zwei Wochen lang wegen meiner neuen Zahnspange fertiggemacht. Und mein damaliges verpickeltes, pubertäres Ich hatte das bis heute noch nicht ganz verkraftet.

„Finja, schau mal!" Luisa zeigte, ziemlich offensichtlich wohlbemerkt, auf einen jungen Mann, ich schätzte ihn auf höchstens 20, der mit einem Schwamm gerade den Boden im Gang schrubbte. Eine schwarze Locke schlug ihm dabei immer wieder sanft ins Gesicht, während seine langen, dünnen Arme den Schwamm bewegten. Luisa hielt alle Menschen für seltsam, die nicht ihrem Schema entsprachen. Nachdem wir ihn ziemlich lange und ziemlich auffällig beobachtet hatten, fiel sein Blick auf uns. Er war starr und kalt, genau wie seine dunkelbraunen Augen.

Luisa hatte ihren Blick schon längst abgewandt, vielleicht weil sie sich eingeschüchtert fühlte, aber aus irgendeinem Grund sah ich ihn noch immer an. Mein erster Gedanke war, dass er aussah, wie eine billige Kopie von Sid Vicious. Der Rockstar natürlich, nicht der Wrestler. Nur mit lockigem Haar anstelle dieses Igelhaarschnitts. Eine sehr billige Kopie. Luisa war schon längst in der Menge der Schüler, die nach dem Klingeln aus den Klassenräumen stürmten, verschwunden, aber ich hatte mich nicht von der Stelle bewegt. Die billige Kopie von Sid Vicious säuberte schon längst wieder den dreckigen Boden des Schulflurs. Ich beobachtete ihn noch eine ganze Weile dabei, bevor auch ich in der großen Traube an Schülern unterging.

Seitdem sah ich den jungen Mann häufiger in der Schule. Manchmal fegte er den Schulhof oder fummelte an einem der Stromkästen herum. Ich sah jedoch nie, dass er sich mit jemandem unterhielt. „So ein Vollidiot", zischte Luisa, als wir an ihm vorbeiliefen. Er hob kurz seinen Kopf, aber sagte nichts. Ich schlug leicht gegen ihren Oberarm.

„Was denn?", quietschte sie mit ihrer unerträglich hohen Stimme und blickte mich empört an. „Er sieht aus wie ein typischer Versager ohne Schulabschluss, der hier auf Bewährung die Klo's putzen muss. Oder nicht?" Ich schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. Ich hasste es, wenn sie so über Menschen sprach, die sie nicht kannte. Ich für meinen Teil verurteilte Menschen weniger schnell.

„Oh Gott, du stehst auf ihn, was?", fragte sie und blickte mich beinahe entsetzt an. Noch bevor ich widersprechen konnte, redete sie drauf los: „Ich wusste es doch! Schon als wir ihn das erste Mal in der Schule gesehen haben, hast du ihn so seltsam angeschaut. Oh Gott, Finja, ich bitte dich."

„Luisa, bitte! Lass das jetzt – es nervt!"

Sie machte nur eine beschwichtigende Handbewegung und wir verließen zusammen das Schulgelände, um in einem kleinen Café in der Innenstadt noch einen Tee zu trinken. Luisa hoffte schon seit Monaten, hier einen Jungen wieder zu treffen, in den sie sich scheinbar unsterblich verliebt hatte. Wir waren damals auch montags nach der Schule hergekommen und sie waren irgendwie zufällig ins Gespräch gekommen, aber hatten vergessen ihre Nummern auszutauschen. Seitdem kamen wir fast jeden Montag ins Barzinho. Luisa und ich setzten uns an denselben Tisch wie immer. Den links in der Ecke, da wir so das ganze Café im Blick hatten. Ich hatte das Barzinho satt. Ich hatte es satt auf diesen Jungen zu warten, für den Luisa sich, wenn er denn überhaupt noch einmal hierher kam, vielleicht eine Woche interessierte. Und ich hatte es satt, dass ich mich nie darüber beschwerte.

EliasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt