Kapitel 6

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~Alicia~
„Los, Prinzessin Alicia! Wachen Sie auf!", weckte mich eine bekannte Stimme.
Als ich die Augen öffnete, erblickte ich Marthas warmes Gesicht, die wild an mir rüttelte.
Martha war meine erste Zofe. Als Zofe machte sie sich recht gut, denn sie war sehr schlau und geschickt. Außerdem verliehen ihre lockigen, dunkelbraunen Haare und ihr schmales Gesicht ihr eine gewisse Reife. Selbst ich musste zugeben, dass ich sie für viel älter als siebzehn Jahre eingeschätzt hätte.
Auch meinen anderen Zofen, Mara und Lara, waren anwesend. Mara und Lara waren eineiige Zwillinge und glichen sich bis aufs Haar. Ich hatte sehr viel Mühe gehabt, sie am Anfang zu unterscheiden. Doch eines Tages hatte ich erkannt, dass Mara an ihrer linken Hand ein Muttermal hatte, das Lara nicht besaß. Es war wundervoll mit ihnen, weil sie mich immer oft auf Trab hielten, denn die Zwillinge waren sehr verrückt und ihre Verrücktheit wirkte sehr ansteckend.
„Was ist denn los!", schmollte ich in mein Kissen, woraufhin ich lautes Gekicher hörte. Ich war nun einmal ein Langschläfer und würde es auch immer bleiben.
„Die italienische Königsfamilie wird binnen weniger Stunden eintreffen. Wir müssen uns beeilen, Eure Hoheit!", erklärte mir Martha mit fester Stimme.
Aufgeschreckt rappelte ich mich hoch und rief: „Was?! Den Empfang habe ich total vergessen!"


Blitzschnell war ich angezogen und zurecht gemacht worden. Schließlich sollte ich heute makellos schön aussehen, da ich ihn heute wiedersehen würde. Ich würde ihn wiedersehen. Mir wurde immer sehr flau im Magen, wenn ich daran dachte.
Ich glaubte, dass schon Monate seit unserem letzten Treffen vergangen waren. Wie sehr ich ihn doch vermisste!
Ich erinnerte mich an unser erstes Treffen und musste schmunzeln. Damals hatte er mich um einen Tanz gebeten und ich tanzte nicht einmal schlecht bis ich am Ende des Tanzes gestolpert und in seine kräftigen Arme gefallen war. Seitdem verbrachten wir bei den Empfängen immer zusammen Zeit und versuchten, so oft wie möglich zu telefonieren. Briefe zu schreiben, fanden wir ein wenig zu riskant. Schließlich wäre es eine Katastrophe, würde ihn jemand lesen. Wir versuchten schließlich, unsere Verbindung geheim zu halten, da wir den ganzen Trubel nicht wollten. Zumindest noch nicht.
Zum Glück ahnten unsere Eltern nichts davon, denn sie dachten, ich wäre nur mit ihm befreundet, genau wie Königin Daphne und Dad damals.
Es war doch ein schönes Gefühl, verliebt zu sein. Mrs Leger hatte mir immer gesagt, dass das Verliebtsein das Schönste und auch das Schlimmste wäre, weil man immer Angst hätte, seinen Geliebten zu verlieren. Wie recht sie doch mit allem hatte.


„Du siehst bezaubernd aus, mein Liebling", säuselte Mum, als wir vor dem Tor warteten.
Ich hatte mich für ein schlichtes, grünes Kleid mit einer schönen, gelben Schleife, das mir nur bis zu den Knien ging, entschieden, denn ich wollte meine Kleidung so einfach wie möglich halten, da mein Prinz meine natürliche Art sehr mochte.
Endlich wurden die Tore geöffnet und die Königsfamilie trat herein. Ich erblickte sofort das Königspaar und hinter ihnen kamen ihre Kinder. Doch mein Blick blieb einzig und allein bei Prinz Leandro hängen. Leandro. Was für ein schöner Name.
Ich musste mich wahrlich zusammenreißen, um nicht sofort zu ihm zu laufen. Auch Leandro schien, sich ebenfalls zusammenzureißen zu müssen. Was für eine Qual es doch war, in seiner Nähe zu sein und ihn nicht berühren zu können.
„Es freut mich sehr, dich wiederzusehen, America!", begrüßte Königin Nicoletta Mutter.
„Es freut mich ebenfalls, dich wiederzusehen, Nicoletta", gab meine Mutter mit einem Lächeln zurück.


Nach der Begrüßung wurden die Damen in den Damensalon eingeladen, was mich quälte. Es waren schon zwei Stunden vergangen und ich hatte mit Leandro noch kein einziges Wort austauschen können.
Meine Mutter war in einem innigen Gespräch mit der Königin vertieft. Das Thema Caitlyn wurde noch einmal ausführlich thematisiert. Meiner Meinung nach war es totaler Schwachsinn. Als würden wir meine liebe Schwester dadurch finden. Ich glaubte nämlich, dass sie sowieso nicht mehr lebte. Natürlich tat es mir leid, aber ich kannte sie nicht einmal und was sollte ich denn auch dazu sagen? Hoffentlich hatte meine Mutter zumindest ihren Spaß an der Sache und würde das Thema danach einfach wieder fallenlassen. Der einzige Vorteil war, dass es mir Zeit verschaffte und ich nicht noch mehr Stress mit der Sache mit der Thronfolger hatte. Seit Wochen, genauer gesagt seit meinem 16 Geburtstag, zogen sie mich damit auf, das ich nun Thronfolger wäre. Das Problem mit meinem Eltern aber war, dass sie zu weit gingen und ich es überhaupt nicht wollte!
„Und wie läuft es so gerade in Italien?", fragte Mum interessiert.
„Das Volk ist der Meinung, dass Leandro in einem heiratsfähigen Alter ist. Immerhin ist er nun schon neunzehn Jahre alt, doch er will nicht", erklärte Königin Nicoletta.
„Das ist doch normal. Liebe kann man nicht erzwingen. Ihr müsst ein wenig Geduld haben", meinte mum.
Königin Nicoletta wedelte mit ihrer Hand. „Das ist nicht das Problem. Leandro verhält sich beim Thema Mädchen ganz merkwürdig. Wenn ich es nicht besser wüsste, scheint es als hätte er jemanden."
Ich gab einen kleinen Laut von mir, doch zum Glück bemerkte es niemand. Ich wusste nicht, ob es mich jetzt beunruhigen sollte, was Königin Nicoletta gesagt hatte, aber es war doch absurd: Leandro hatte mir schon oft gesagt, dass er mich liebte, und ich glaubte ihm das. Er war nun einmal mein Freund und Vertrauen spielte eine wichtige Rolle in einer Beziehung.


Endlich hatte ich es nach Stunden geschafft, mit Leandro alleine zu sein.
Wir waren im Garten, wo zum Glück nicht so viele Wachen waren und man genügend Plätze hatte, um sich zu verstecken.
„Ich habe dich so vermisst, Maus!", sagte Leandro mit seinem leichten italienischen Akzent.
Wie süß es sich doch anhörte! Ich schwärmte immer vor mich hin, wenn ich auch nur den Klang seiner schönen Stimme hörte. Wir setzten uns auf eine Bank, ganz versteckt hinter den Bäumen.
„Ich habe dich doch auch so vermisst!", erwiderte ich seufzend.
Ich sah Leandro tief in die Augen und fühlte mich einfach wohl bei ihm. Er berührte mit seiner Hand ganz sanft meine Wange und legte seinen anderen Arm um mich. Ich kuschelte mich ganz gemütlich an ihn. Wie ich doch diese stillen Momente mit ihm liebte!
„Meine Eltern nerven mich so zurzeit", sagte ich nach einer Weile. „Immer diese ‚Du wirst den Thron besteigen'-Sache. Sie wollen, dass ich Königin werde, aber das will ich nicht ‒ und nun ist auch noch die Sache mit meiner angeblich noch lebenden Schwester. Seit Tagen geht es nur noch um sie. Caitlyn, Caitlyn, Caitlyn. Ich kann es echt nicht mehr hören."
Diese Sachen beschäftigten mich schon eine ganze Weile und es musste endlich heraus. Meine Eltern verstanden mich mich und Jayden war noch viel zu jung und naiv.
Leandro strich mir eine Haarsträhne über das Ohr und sah mich mitleidig an.
„Wieso willst du denn nicht Königin werden?", fragte er kleinlaut, als würde er sich vor meiner Antwort fürchten.
Ich gab ihm einen finsteren Blick und umfasste seine Hände.
„Na, ich liebe dich! Ich will nur dich. Wenn ich Königin werde, kann ich nicht mit dir zusammen sein. Ich will nicht eine Königin von Illéa werden. Ich möchte deine Königin werden. Ich liebe dich, Leandro", erwiderte ich entschlossen.
Leandro sah mich erleichtert an.
„Also willigst du ein, meine Frau zu werden?"
Ich wollte darauf antworten, doch ich verschloss meinen Mund wieder, als hätten seine Worte meine Stimme verschlagen, und ich starrte ihn perplex an. Natürlich wollte ich nur ihm gehören, aber wir hatten das Thema „Heirat" noch nie offen angesprochen und es wunderte mich enorm, warum er es jetzt tat. Machte er das gerade mit Absicht? Mein Herz fing an zu rasen und ich überlegte, ob das jetzt ein Heiratsantrag gewesen war. Wenn ja, war es aber kein wirklich romantischer, dafür aber ein schöner.
Als könnte er die Verwirrung in meinem Gesicht lesen, antwortete er mit einem breiten Lächeln: „Natürlich müssen wir nicht jetzt sofort heiraten. Es hat ja alles noch seine Zeit, immerhin sind wir ja noch jung. Erst einmal werden wir es unseren Eltern Bescheid geben, nachdem der ganze Trubel bei euch vorbei ist. Aber nur damit du weißt, dass du ganz alleine für mich reserviert bist. Ich liebe dich, Alicia Sophia Schreave, und ich möchte für immer und ewig mit dir zusammen sein. Aber einen Ring kriegst du noch!"
Er zwinkerte mir zu und ich versuchte, das Ganze zu verarbeiten. Er wollte mich heiraten! Nicht einmal ein Jahr war es her, dass ich ihn das erste Mal gesehen hatte und er wollte bereits mit mir sein Leben verbringen. Mein Herz raste wie wild. Ich konnte es einfach nicht fassen.
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf meinem ganzen Gesicht aus und ich fing an, bekräftigend zu nicken.
„Ja. Natürlich will ich mein Leben mit dir verbringen. Ich liebe dich!"
Er schien erleichtert darüber zu sein, was mich froh machte, aber plötzlich veränderte sich seine Miene.
„Was ist los?", fragte ich vorsichtig, aus Angst diesen doch so schönen Moment zu zerstören.
„Es gibt ein Problem. Ich bin Kronprinz und du weißt, was das heißt. Wenn ich so meine Mutter höre, ist sie der Meinung, dass es schon fest steht, dass du den Thron besteigen wirst", erwiderte er nachdenklich.
„Nein!", rief ich aus. „Ich werde nie Illéa regieren! Das kann ich nicht. Ich liebe dich! Ich möchte später deine Frau werden. Na und? Dann gehe ich halt nach Italien. Ich habe es dir doch schon vorhin gesagt. Es kommt nicht infrage. Egal, was meine Eltern wollen."
Leandro gab einen erleichterten Seufzer von sich.
„Versprich es mir. Bitte!", sagte er nun.
„Ich verspreche es dir. Ich liebe nur dich! Ich will mein Leben nur mit dir..." Weiter kam ich nicht, da mich Leandro plötzlich zu sich zog und wir beide in einem leidenschaftlichen Kuss versanken.

Selection - The lost princessWhere stories live. Discover now