~22~ Thurso

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Stille. Sowohl zwischen den Männern, als auch in meinen Gedanken.
Ich will nicht wahr haben, was der Mann, der offensichtlich ein Arzt ist, gesagt hat. Die sprechen bestimmt von einer anderen Leonora! Ach scheiße verdammt! Was mach ich mir eigentlich vor?! Natürlich sprechen die von mir!

Vorsichtig öffne ich meine Augen. Ich will sehen, was man mir angetan hat. Ich will sehen, was ich überlebt habe!
Doch der Anblick ist schrecklich.
Mein linker Arm liegt im Gibs, mein rechter Fuß in so ner komischen Schiene, die wie ein grauer Schuh aussieht und der Rest meines Körpers ist übersäht von blauen Flecken!!
Es tut mir in der Seele weh, das zu sehen. Eine einzelne, verlorene Träne kullert an meiner Wange herab.
Als die beiden Männer merken, dass ich wach bin, kommen sie sofort an mein Bett. Der Arzt redet mit mir und macht irgend etwas an denGeräten, doch ich nehme kein einziges Wort von dem, was er sagt, wahr.
Meine Gedanken rasen, genau wie meine Gefühle. Was soll ich bloß denken?
Von mir?
Von der Situation?
Von dem Geschehenen?
Und wie soll ich bitte darauf reagieren?
Was wäre angemessen?
Was wäre normal?
Ich habe einfach keine Ahnung und so verfalle ich in eine Art Sicherheitsmodus. Nichts fühlen, nichts denken, einfach anwesend sein.
,,Meinen sie, ich könnte ihr ein paar Fragen stellen?“ Da ist sie wieder, die Stimme, die mir bekannt vor kommt.
Zum ersten mal hebe ich meinen Kopf an, um zu gucken wie die Männer aussehen, und dann sehe ich ihn.
Den Mann, der zu der Stimme gehört.
Officer Thurso!
,,Solange sie behutsam vorgehen, habe ich nichts dagegen. Doch wenn etwas ist, rufen sie mich sofort.“ willigt der Arzt ein, wartet noch auf eine Bestätigung seines Gegenübers und verlässt dann den Raum.
Thurso schaut nun zu mir, Mitleid liegt in seinen Augen und als er spricht, ist seine Stimme erfüllt von Trauer.
,,Eigentlich wollte ich dich unter solchen Umständen nie wieder stehen, Leonora. Tut mir Leid, dass das nun doch der Fall ist.“
Kurz schweigt er, schaut mich nach wie vor mitleidig an.
,,Ich war bei deinen Adoptiveltern und habe ihnen Bescheid gegeben. Ihre Reaktion sagt viel über diese Menschen aus. Ihnen ist es egal... Tut mir Leid, dir das so sagen zu müssen.“ entschuldigt er sich wieder, fährt aber fort.
,,Ich habe dir ein paar Pullis von dir mitgebracht, da all deine Sachen leider verbrannt wurden. Ebenso deine Ausweisdokumente. Daher hier erst mal ein von der Polizei bestätigter Ausweis als Notlösung. Bald bekommst du einen Neuen.“
Thurso legt ein dünnes Papier auf den Tisch neben meinem Bett und deutet dann auf eine dunkle Sporttasche, wo wohl meine Sachen drin sind.
,,Was dich freuen wird: Dieses Mal haben wir wirklich alle Mitglieder des Kartells gefasst. Wir sind schon lange dran und jetzt haben wir sie endlich. Alle!“

Es freut ich, das zu hören, doch mehr löst es nicht in mir aus. Die ganze Zeit höre ich ihm nur zu, zeige keine Reaktionen, bin einfach nur müde. Psychisch und physisch.
,,Du weißt, ich muss dich fragen, was genau passiert ist, doch vorher möchte ich dich etwas anderes fragen. Sagst du dieses Mal vor Gericht aus?“
Abwartend mustert der Officer mich.
Erst jetzt fallen mir die kleinen Falten auf seiner Stirn und die vereinzelten grauen Häärchen auf. Er ist älter geworden, kein Wunder.
Aber dieser Mann hat Recht. Letztes Mal habe ich mich zurückgezogen und hatte zu viel Angst davor, eine Aussage zu machen, doch dieses Mal ist es anders. Dieses mal haben sie wirklich alle Männer und dieses Mal werde ich aussagen!

Fünf Tage später, es ist ein kalter Sonntag Morgen, ist es dann so weit. In Begleitung von Officer Thurso fahre ich zum Gericht. Mir geht es nach wie vor nicht gut. Mein gesamter Körper protestiert bei jede Bewegung und schmerzt einfach nur.
Doch ich reiße mich zusammen und denke einfach nur daran, dass diese Männer, die mir all das angetan haben, bald hinter Gitter sitzen.
Doch andererseits habe ich Angst. Nicht davor, die Männer vielleicht noch mal zu sehen, sondern davor, alles offen und ehrlich zu zugeben.
Zwar werde ich nur das erzählen, was mir diese Woche passiert ist, doch was ist, wenn der Richter mir Schuld an etwas gibt?
Was ist, wenn die Menschen die zuhören, mich dafür verurteilen, dass ich beinahe einen Jungen erschossen hätte?

Schnell schmeiße ich die Gedanken aus meinem Kopf. Daran darf ich nicht denken, das würde mich nur noch mehr zerstören.

Stilles LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt