~21~ Schieß

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Es vergehen einige Tage seit meiner Entführung. Es könnten acht sein, vielleicht aber auch neun oder Zehn. Es könnte Montag sein, vielleicht aber auch Mittwoch. Ich weiß es einfach nicht. Zu oft bin ich bewusstlos geworden, zu sehr hat mein Zeitgefühl gelitten.
Jeden Tag sind sie gekommen. Jeden verdammten Tag.

Doch heute ändert sich etwas.
Der Berg kommt mal wieder. Wie immer beugt er sich zu mir runter, doch was er dann sagt, lässt mich absolut verzweifeln.
,,Du wirst jetzt Wen für mich erschießen.“
Mit riesigen Auge starre ich ihn verzweifelt an.
Nein! Nein, dass kann er nicht so gemeint haben!
Brutal packt er mich am Kragen und zieht mich auf die Beine.
Meine Rippen protestieren.
Mein rechter Fuß pocht.
Mein linker Arm sieht komisch aus, was ich erst jetzt wirklich wahrnehme. Alles in und an meinem Körper protestiert. Ich will und kann auch gar nicht stehen. Doch ich zwinge mich dazu, denn wenn ich wieder hinfalle, werde ich bestraft.

Viel zu schnell schubst der Berg mich vor sich her. Vor einer weiteren Zelle hält er inne, schließt auf, betritt sie mit mir und schließt die Tür wieder hinter sich.
Mein Blick klebt an einem kleinen Jungen, vielleicht sieben Jahre alt, welcher kränklich und kaum bei Bewusstsein vor mir im Dreck liegt.
Der Cheff greift meinen Arm, welcher sofort noch mehr schmerzt, und zwingt mich ihm in seine abscheulichen Augen zu gucken.
Grausam grinst er und zieht etwas aus seiner Jacke. Es ist eine Knarre!!
Er lässt von mir ab und greift noch nach einem Funkgerät.

,,Am anderen Ende dieser Leitung ist mein bester Scharfschütze. Sein Gewehr ist auf den Kopf deines Freundes, Dean O'Gorman, gerichtet.
Wenn du den Jungen dort nicht erschießt, erschießt mein Mann deinen Freund. Jay, hörst du mich?“
Ich kann seine Worte nicht glauben! Ich soll einen kleinen Jungen erschießen?!
,,Ja Cheff, kann sie hören!“
,,Alles bereit?“
,,Ja Cheff!“
,,Prima. Halt dich bereit.“
,,Ja Cheff!“

Der Berg blickt mich siegreich an.
,,Wenn ich mich nicht melde, um den Befehl zurück zu nehmen, wird er schießen. Also, hier die Waffe.“
Ohne Vorwarnung drückt er mir die Pistole in die Hand.
Schockiert starre ich erst auf die Pistole, dann auf den Jungen.
Wenn ich nicht schieße, erschießt er Dean...
Wenn ich nicht schieße, schießt er...
Wenn...
Ich hebe die Pistole mit meiner rechten Hand hoch und ziele auf die Brust des Siebenjährigen.
Er würde eh sterben...
Für meine Freunde!

Mein Zeigefinger zuckt am Abzug und plötzlich geht alles ganz schnell. So schnell, dass mein Gehirn nicht hinterher kommt.
Am Ende liegt die Pistole auf dem Boden. Der Berg ebenfalls, über ihm ein Mann in Uniform. Uniform!!
Daneben steht noch ein Uniformierter.
,,Miss? Können sie mich hören?“
fragt dieser, doch ich nehme ihn nicht wahr. Nur eine einzige Sache geht mir durch den Kopf. Der Scharfschütze!!
Mein Blick schnellt zum Funkgerät.
,,Keine Sorge, der Schütze ist außer Gefecht gesetzt.“ beruhigt mich der Mann, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Es beruhigt mich so sehr, dass all der Stress von mir abfällt. Als die krampfhaft verdrängten Schmerzen kommen mit einem mal zurück und schlagen auf mich ein. Ich kann mich nicht mehr halten und gebe mich dem Wunsch nach Erlösung hin.

,,Könne sie mir sagen, was Leonora genau hat? Ich möchte mir ein Bild von den Umständen machen.“ bittet eine Stimme leise, die mir irgendwie vertraut vorkommt.
,,Natürlich. Eine Kopie der Akte bekommen sie dann noch mal zugeschickt.“ antwortet eine andere männliche Stimme, die ich nicht kenne.
,,Danke.“
,,Natürlich. Also, ich beginn mal von oben: Sie hat zwei Platzwunden am Kopf, welche definitiv von Fremdeinwirkung erzeugt wurden. Daher gehen wir auch davon aus, dass sie eine schwere Gehirnerschütterung hat. Am Hals hat sie eindeutige Würgemale. Man kann sogar noch die Hand- und Fingerabdrücke erkennen.
Die Speiche des linkem Arms ist gebrochen. Genau so vier ihrer Rippen, fünf sind geprellt.
Der Mittelfußknochen des rechten Fußes ist angebrochen.
Den Rest sehen sie selber. Ihr Körper ist ein einziger blauer Fleck. Rücken und Bauch sind übersäht von Schuhabdrücken, genau wie die Ober- und Unterschenkel. Ihre Arme sind nur zum Teil von den Tritten und Schlägen verschont worden...
Officer, das hier ist der schwerste Fall von Misshandlung, der mir in meiner gesamter Laufbahn als Arzt je untergekommen ist.“

Stilles LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt